Was für viele in der Spitze der Union eine reine Formalie zu sein schien, ist innerhalb weniger Tage in eine riesige Grundsatzdebatte explodiert und hat eine sachliche Diskussion über die Wahl in eines der angesehensten und respektierten Gremien der dt. Bundesrepublik, dem Bundesverfassungsgericht, schon jetzt völlig unmöglich gemacht. Die Vorkommnisse zeigen aber deutlich die Dynamiken einer nervösen, volatilen Gesellschaft, die Lust am Missverständnis und die immer stärkere Polarisierung, die an der politischen Mitte zerrt, sowie die Macht sozialer Medien. Sie ist aber auch ein Lehrstück für das Management-Versagen in der Politik, die in festgefahrenen Strukturen denkt und immer wieder den gleichen Fehler macht, wenn sie aus solchen Vorkommnissen nicht endlich die richtigen Schlüsse zieht.
Potenzial und Sprengkraft völlig unterschätzt
Aber was ist passiert? Schon lange vorbereitet, von vielen in der Unionsspitze als unter „ferner liefen“ abgehakt, wurde zwischen den Fraktionen des deutschen Bundestags über die Wahl neuer Richter für das Bundesverfassungsgericht beraten. Die Union hatte Robert Seegmüller vorgeschlagen, der aber den Grünen dem Vernehmen nach „zu konservativ“ gewesen sei. Die Unionsfraktion hat daraufhin den Kandidaten zurückgezogen und sich auf eine „Paketlösung“ geeinigt. Man unterstütze unter anderem Frauke Brosius-Gersdorf, Professorin an der Universität in Potsdam.
Genau diese Personalie ist genau eine Woche vor der Wahl am Freitag im Bundestag erst auf den sozialen Medien, jetzt aber auch im politischen Berlin scheinbar aus heiterem Himmel regelrecht explodiert. Stein des Anstoßes sind u.a. die auch in Talkshows geäußerten Aussagen von Frau Gersdorf zu Themen wie dem AfD-Verbot, Impfpflicht, Wahlrecht – und eben auch dem Abtreibungsrecht. Als Juristin saß sie in der von der Ampel-Regierung eingesetzten Reformkommission für den Paragrafen 218 StGB. Nun hat in der Fachwelt längst eine breite Diskussion über die Fragen von Menschenwürde (Art 1 GG) und Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art 2 GG) Einzug gehalten, auch unter der Diskussion des Schwangerschaftsabbruchs.
Frau Gersdorf vertritt hier kurz gesagt eine in der Juristerei vertretene Minderheitsmeinung bzgl. der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs und der Grundsätze, ab wann ein vollständiger Lebensschutz für das ungeborene Leben anzusetzen ist. Diese juristisch-fachliche Fragestellung ist dabei von der eigentlichen politischen Debatte um Schwangerschaftsabbrüche, die seit Jahrzehnten komplex, emotional und unter ethischen wie religiösen Gesichtspunkten debattiert wird, differenziert zu betrachten. Sie wurde dann allerdings aus der Fachlichkeit in die politische Arena gezerrt.
Screenshots über eine Festrede von Frau Gersdorf gingen herum, inklusive von Aussagen, die im Kontext als direkter und fundamentaler Angriff auf die Grundsätze des Lebensschutzes, zu denen sich die Union auch bekennt, verstanden werden konnten. Die Diskussion kochte in internen Unionsgruppen hoch und endete damit, dass Teile der Auseinandersetzung, ebenso wie die Antworten der Fraktionsspitze der CSU, in den Medien und damit auch im Netz landeten.
Politische Strategie nach dem Motto „In meinen Wahlkreis wars kein Thema“
Die Führung der Unionsfraktion hatte eine einfache Losung ausgegeben: Wir wählen hier ein Paket verschiedener Kandidaten, wir wollen nicht von den Stimmen der rechtspopulistischen AfD abhängig sein, das Ganze ist keine große Sache. Diese Haltung äußerte sich dann sinngemäß in der Aussage, man sehe das Thema nicht als kritisch an, da im Wahlkreis des CSU-Landesgruppenchefs diese Debatte kein Thema gewesen sei.
Politische Strategie basierend auf anekdotischer Evidenz eines einzelnen Wahlkreises? Nicht zu Unrecht landete dieser Kommentar im Netz und wurde dort – nicht nur vom politischen Gegner, sondern auch leicht entsetzten Unionsangehörigen – kritisiert. Nun muss man zur Fairness sagen, dass eine Debatte auf den Sozialen Medien allein nicht unbedingt eine Durchdringung findet. Es ist kein Automatismus, dass Diskussionen und Aufreger auf X (ehemals Twitter) von der „regulären Presse“ aufgegriffen und zur Agenda im politischen Berlin werden.
Doch die Aussage „Bei mir ist es kein Thema“ zeigt das verkannte Potenzial, Soziale Medien nicht nur als Indikator zu verstehen, wohin sich eine Debatte gerade entwickelt. Die proaktive Möglichkeit, eine eigene Agenda zu platzieren, Spins zu setzen und auch dort gewisse Dinge mit kluger kommunikativer Vorarbeit zu verhindern, war scheinbar von niemandem ernsthaft in Betracht gezogen worden.
Erste Anzeichen einer Durchdringung
Aufmerksam werden hätte man spätestens müssen, als Journalisten, die sich sehr nah an der Union bewegen wie der Welt-Journalist Robin Alexander, diesen Unmut in der CDU/CSU anfingen aufzugreifen. In der Union hatte sich unlängst eine konkrete Kritik entwickelt, wie es denn sein könne, dass man den von der Union präferierten Kandidaten gar nicht erst zur Wahl gestellt habe. Der Eindruck entstand, dass die Union zwar für den „Zusammenhalt der Mitte“ einstehe, dies aber im Gegenzug nicht von SPD und Grünen einfordere. Denn wenn die CDU einen Kandidaten zurückzieht, der von SPD kritisch gesehen und für die Grünen ein No-Go war, warum besteht die CDU dann nicht auf einen Konsens bei den anderen Kandidaturen?
Robin Alexander griff im „Table.Media“-Podcast des Kollegen Michael Bröcker diese, wenngleich emotionale, aber dennoch differenzierte Kritik im Unionslager auf. Spätestens jetzt hätten Fraktion und Partei aktiv werden müssen, die Inhalte der angesprochenen Kandidaten fachlich zu analysieren und dann eine Entscheidung zu treffen und vor allem mit einer proaktiven Kommunikation an die Mitglieder heranzutreten, die sich immer weiter entfremdet sahen. Denn in der Zwischenzeit hatten berufene Quellen Zitate der Frau aufgebracht, die sie nicht nur in einem verzerrten Bild darstellten, sondern auch ein eindeutiges, gewolltes Narrativ einrahmten: „Diese Frau ist eine radikale, linke Aktivistin und die Union versteht nicht, wen sie da ins Verfassungsgericht senden würde.“
Konservative, vor allem religiös geprägte, wurden immer lauter. Die Wahl sei unmöglich, sie sei für einen Abgeordneten der CDU/CSU nicht mit dem Gewissen vereinbar (Die Gewissensfrage wird für eine kommunikative Falle der AfD wenig später noch einmal relevant). Jetzt, wo eine Durchdringung aus dem Netz in das politische Berlin erkennbar wurde, sieht sich die Fraktions- und Parteispitze plötzlich mit einer so großen Zahl von Abweichlern konfrontiert, dass man zum Handeln gezwungen ist.
Eine Falle und ein folgenschweres „Ja“
Es brodelte bereits vor sich hin innerhalb der Union. Das Aufkommen immer weiterer selektiver Auswahlen verschiedener Texte von Frau Brosius-Gersdorf half nicht bei der Versachlichung. Doch so richtig eskaliert ist die Debatte erst nach der Regierungsbefragung im deutschen Bundestag. Hier hatte die AfD eine perfide Falle gestellt – und zwar in Richtung Friedrich Merz, aber, wie sich später herausstellen sollte, auch in Richtung der emotional aufgebrachten Unions-Konservativen. Innerhalb der Fragestunde fragte die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch, ob Merz es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, wenn eine Frau mit Stimmen der Union nach Karlsruhe berufen wird, die laut Storch „die Würde eines Menschen nicht gegeben“, sieht, „sie habe gesagt, dass einem neun Monate alten ungeborenen Kind keine Menschenwürde zukommt“. Merz, der in dem Moment als Bundeskanzler eine staatstragende Antwort geben will, nämlich dass er als Kanzler nicht seine Wahl für das Bundesverfassungsgericht von seinem persönlichen Gusto abhängig machen kann (und das die Aussage von Frau Storch erwartungsgemäß mindestens unterkomplex dargestellt wird), antwortet dieser ein eine etwas lapidare Antwort „Ja“. Das Ja richtete sich aber nicht gegen die Frage von Frau Storch per se, denn das Frau Brosius-Gersdorf für das einstehe, was Frau Storch in ihrer Frage referiert, entspricht schlicht nicht der Wahrheit. Wie in einem Gutachten für die Gesetzesnovelle der Ampelregierung zu §218 zu lesen ist, spricht sich die Verfassungsjuristin dort erkennbar für den Schutz ungeborenen Lebens in späteren Schwangerschaftsphasen aus. Ein Missverständnis also – oder vielleicht eine bewusste Falschdarstellung, um die Union in gleich zwei Fallen zu locken.
Eine falsche Aussage oder Missverständnis?
Jetzt kann man von einem schlichten Missverständnis ausgehen oder von einer bewussten falschen Aussage – in der Kombination mit der Frage nach dem Gewissen (aufgreifend, was Unionsleute bereits Tage vorher schrieben – „man kann die Wahl dieser Person mit dem Gewissen nicht vereinbaren“) entstand hier Sprengstoff, den weder Merz, noch die Unionsspitze gesehen haben.
Einschlägige Medien explodierten mit einer eindeutigen Botschaft: „Friedrich Merz, der Bundeskanzler einer konservativen CDU, hat kein Problem damit, wenn bis in den 9. Monat abgetrieben wird“. Kommentatoren im rechten Spektrum waren sich sicher, dass die Union jetzt die endgültige Abkehr vom Christentum beschlossen habe.
Aber Moment: Friedrich Merz, der sich noch vor der Bundestagswahl einen veritablen Shitstorm einhandelte, weil er die Hau-Ruck-Aktion der Ampel, §218 in einer Nacht-und-Nebelaktion durchs Parlament zu prügeln, kritisierte, ist jetzt ein radikaler Abtreibungsbefürworter? Ein mehrfacher Familienvater und vor allem Großvater wirft achtlos seine Überzeugungen zum Schutz ungeborenen Lebens weg? Obwohl Merz und Linnemann es auch in das Grundsatzprogramm explizit aufnehmen ließen?
Wie sich herausstellt, hat die AfD hier gleich zwei Fallen aufgestellt: In die eine ist der Kanzler getappt und hat zum Beispiel versäumt, die Falschdarstellung und dreiste Infragestellung der juristischen Integrität von Frau Brosius-Gersdorf zurückzuweisen, bevor man die Wahl für unproblematisch erklärte. In die andere Falle aber sind ganz, ganz viele Unionsleute getappt, denn die noch am Vortag sachlich aufgebaute Kritik am Verfahren, an der inhaltlichen Haltung der Juristin, an differenziertem, sachlich vorgetragenem Unverständnis versank jetzt in einer Kakophonie tribalistischer Abwehrmechanismen. Während sich die meisten Juristen vermutlich etwas verwundert umschauten, war die Empörungswelle nicht mehr aufzuhalten. Diese Falle ist noch perfider als die erste, die dem Bundeskanzler galt, denn bis heute haben viele der betroffenen noch nicht einmal verstanden, dass sie reingetreten sind.
Ein komplett vergeigtes Verfahren
Wie diese Situation am Ende ausgeht, ist derzeit nicht abzusehen. Was man hingegen schon festhalten kann, ist dass CDU und SPD das Verfahren und die parteiinterne Diskussion (hier vor allem in der Union) völlig entglitten ist. Wer das Interesse hat, aus Fehlern zu lernen, kann verschiedene Lehren daraus ziehen.
Cleverness und Finesse sind Erwartungshaltungen an die Politiker, die unter fast 400.000 Mitgliedern die Geschicke der Union leiten, sie nach außen vertreten und für sie sprechen. Es muss erneut der Appell ausgesprochen werden, dass wir es uns insbesondere als Kanzlerpartei nicht leisten können, den politischen und kommunikativen Realitäten des 21. Jahrhunderts zu verweigern. Die AfD hat den Kulturkampf zum zentralen Element der Auseinandersetzung erklärt, zu einer Strategie, die schwarz-rote Koalition zu entzweien und zu schwächen, sowie die „politische Mitte“ als solches zu brechen. Die Antwort der Union darauf kann weder Methode Vogel-Strauß noch die radikalen Playbooks der US-Amerikanischen Republikaner sein. Wir müssen unsere eigenen Lösungen finden – aber wir müssen sie auch finden wollen.
Die konservativen Unionspolitiker und Sympathisanten der Union hingegen müssen sich fragen, ob sie mit Halbwahrheiten, Hysterie und Emotionalität den Ansprüchen an eine Strömung gerecht werden, die Mitte-Rechts noch Leitcharakter und Seriosität besitzen will. Denn ansonsten wird aus legitimer Kritik an falschen oder schlecht kommunizierten Entscheidungen zu schnell nur ein vom politischen Gegner ausspielbarer Erfüllungsgehilfe durch Dauer-Empörung und Übersensitivität.
Und letzteres kann – und darf – nicht der Anspruch einer Volkspartei sein.