1998, Bundestagswahl. Mit 40,9 Prozent der Stimmen gelingt Gerhard Schröder der angekündigte Wechsel: Aus Schwarz-Gelb unter Helmut Kohl wird Rot-Grün. Der Wahlkampf der berühmt-berüchtigten „Kampa“ gründete auf zwei Botschaften: „Die neue Mitte“ und „Wir sind bereit“. 2025 gilt beides nicht mehr.
Die SPD des Jahres 2025 gleicht einem Schatten ihrer selbst. Der neue Generalsekretär Tim Klüssendorf sagt Nein zu Reformen beim Bürgergeld, obwohl sie im Koalitionsvertrag stehen. Arbeitsministerin Bärbel Bas kritisiert die Migrationspolitik, die sie selbst im Kabinett mitträgt. Statt Größe und Gestaltungswillen prägen das Nörgelige, das Kleine und das Ausweichende das Bild einer Partei, die in sich selbst gefangen wirkt.
Es ist ein dramatischer Wandel. Früher war die SPD bereit, zu großen Kompromissen zu stehen und schmerzhafte Reformen mitzutragen. Gerhard Schröder wagte die Agenda 2010, wissend, dass sie ihm Protest und Wahlniederlagen eintragen würde. Franz Müntefering stimmte 2005 der Mehrwertsteuererhöhung von 16 auf 19 Prozent zu – obwohl die SPD im Wahlkampf noch von der „Merkelsteuer“ sprach, die nur zwei Prozentpunkte vorsah. Er trieb das höhere Rentenalter voran, gegen den unmittelbaren Willen der eigenen Basis. Das war politische Größe: die Bereitschaft, das Richtige zu tun, auch wenn es weh tat.
Von dieser staatsmännischen Haltung ist heute nur noch Erinnerung geblieben. An ihre Stelle ist eine kleinmütige Verweigerungshaltung getreten, die das Regieren zur Farce macht.
Heute geht es nicht mehr um einzelne Gesetzesinitiativen, sondern grundsätzlich um die Fähigkeit, das Land zu führen. Eine 16-Prozent-Partei kann blockieren und kommentieren, aber sie kann die Republik nicht prägen. Augenhöhe mit der Union ist nur noch nette Koalitionsprosa, ein politisches Ritual, das seine eigene Irrealität nicht kaschieren kann. Der Versuch, diese Größe vorzutäuschen, ist ein Echo aus besseren Zeiten.
Probleme lösen statt zu theoretisieren
Was bleibt, ist die langweilige Normalität der politischen Mitte. Deutschland braucht Wirtschaftswachstum, funktionierende Infrastruktur, innere und äußere Sicherheit. Die Mitte war schon immer der Ort des Pragmatismus – dort, wo Probleme gelöst statt theoretisiert werden, wo das Machbare dem Wünschenswerten vorgezogen wird.
Diese Mitte kennt Erkenntnisse, die weder links noch rechts sind, sondern schlicht vernünftig: Sozialstaat funktioniert nur mit wirtschaftlicher Stärke, Integration nur mit klaren Regeln, Gerechtigkeit nur mit Leistungsbereitschaft. Das ist der schlichte Pragmatismus des Funktionierens – unspektakulär, aber wirksam. Die Mitte bildet Wirklichkeit ab, nicht Wunschdenken. Sie führt Facharbeiter und Akademiker zusammen, Unternehmer und Angestellte, Einheimische und Eingewanderte, Stadt und Land, Jung und Alt, Ost und West. Sie überbrückt die Kluft zwischen denen, die morgens um sechs zur Arbeit fahren, und denen, die im Homeoffice arbeiten. Zwischen denen, die sich um ihre Rente sorgen, und denen, die gerade ins Berufsleben starten. Zwischen denen, die Sicherheit suchen, und denen, die Veränderung wollen.
Faktisch verkörpert aktuell nur die CDU diese Mitte. Ob sie will oder nicht, sie ist der wohlmeinende Hegemon, der die Demokratie trägt, solange die SPD sich nur als Schatten ihrer eigenen Geschichte bewegt. Die FDP ringt ohnehin mit sich selbst, die Grünen mit der Wirklichkeit.
Die CDU als wohlmeinender Hegemon
Die CDU muss eine Rolle übernehmen, die sie nie wollte: die des alleinigen Trägers der demokratischen Mitte. „CDU pur“ war ein hehres Ziel, aber die Realität ist eine andere – wer die Mitte stabilisieren will, muss integrieren, nicht polarisieren. Die Union ist heute weniger Partei als vielmehr Garant einer funktionierenden Demokratie.
Diese Verantwortung verlangt der CDU Zurückhaltung ab. Sie muss der SPD Zeit und Raum für die Regeneration lassen, statt sie zu vernichten. Sie muss beweisen, dass Hegemonie ohne Rücksichtslosigkeit möglich ist – ein wohlmeinender Hegemon, der hofft und zulässt, dass andere wieder zu Kräften kommen. Die SPD muss im Gegenzug nur auch die Union einfach mal machen lassen.
Friedrich Merz und die Union haben gezeigt, dass es ihnen ernst ist. Die SPD hat die Luft zum Atmen: sieben Ministerien, Spielräume für Sozialpolitik, ein Sondervermögen für Infrastruktur von 500 Milliarden Euro. Doch die SPD verheddert sich in identitätspolitischen Ritualen und nostalgischer Selbstbespiegelung, statt zu verstehen, welche historische Gelegenheit zur Neuaufstellung sie hat.
Die Sozialdemokratie steht vor einer einfachen Wahl: Entweder sie kehrt zu ihren Wurzeln zurück – zu Arbeitsplätzen, die bleiben, zu Schulen, die funktionieren, zu Renten, die tragen, zu einer Integration, die gelingt. Oder sie versinkt endgültig in der Bedeutungslosigkeit zwischen Genderdiskursen und Enteignungsfantasien.
Beides zugleich geht nicht. Wer morgens um sechs zur Arbeit fährt, interessiert sich nicht für Diversitäts-Quoten. Wer sich um seine Rente sorgt, will keine Belehrungen über das Selbstbestimmungsgesetz. Die SPD muss sich endlich entscheiden, für wen sie Politik machen will – für ihre ursprüngliche Wählerschaft, die mittlerweile den Rechtspopulisten ihre Stimme gibt, oder für urbane Akademiker-Milieus, die ohnehin grün oder linksaußen wählen.
Der Doppelname, der die SPD interessieren sollte, ist Duisburg-Marxloh, nicht Brosius-Gersdorf.