Die Erosion der Mitte
CDU/CSU und AfD gleichauf, SPD unter 15 Prozent, FDP unter der Fünf-Prozent-Hürde. Die jüngste Sonntagsfrage vom 5. August 2025 (Forsa) zeigt, was längst Realität ist: Die politische Mitte verliert an Kraft, Vertrauen und Richtung. Die Extreme gewinnen nicht trotz, sondern wegen ihrer Radikalität.
Doch es handelt sich nicht um einen Zufall oder einen kurzfristigen Stimmungsumschwung. Der Niedergang der Mitte ist das Ergebnis eines langen Strukturwandels. Der Staat wirkt dysfunktional, das Aufstiegsversprechen brüchig, Institutionen verlieren ihre Autorität – und die Menschen ihre Bindung. Was entsteht, ist ein Vakuum. Und in diesem Vakuum wächst nicht die Mitte, sondern die Extreme.
Das gebrochene Aufstiegsversprechen
Jahrzehntelang hielt ein gemeinsames Versprechen die Bundesrepublik zusammen: Wer sich anstrengte, konnte auf Sicherheit, Eigentum und Mitsprache hoffen. Dieses Versprechen ist für viele zur Fiktion geworden. Der Staat und seine Institutionen haben sich seit Jahrzehnten in immer kleinteiligeren Regulierungen verloren, während die eigentlichen Kernaufgaben vernachlässigt werden. Verkehrsinfrastruktur verfällt, die Energiepolitik wirkt erratisch, die Landesverteidigung bleibt unterfinanziert, die Migrationssteuerung ungelöst. Zugleich schraubt die Bürokratie ihre Anforderungen immer höher und lähmt damit Eigeninitiative und Fortschritt. Wer den Aufzug zur Mitte sucht, trifft auf eine defekte Gegensprechanlage.
Besonders die Jüngeren erleben, dass Leistung nicht mehr automatisch Teilhabe oder Aufstieg bedeutet. Sie sehen Politik nicht als gestaltende Kraft, sondern als Simulation – ein Prozess ohne Ergebnis. Damit verliert die Demokratie nicht nur Vertrauen, sondern auch die Fähigkeit, sich selbst zu erklären.
Institutionen ohne Autorität
Der Staat erscheint in vielen Bereichen nicht mehr als Garant von Ordnung, sondern als Teil des Problems. Ob im Schulwesen, in der Infrastruktur, in Fragen der Migration oder der Energieversorgung: der Eindruck wächst, dass Institutionen nicht am Gemeinwohl, sondern vor allem an sich selbst orientiert arbeiten.
Die Bürger erleben eine paradoxe Situation. Im Alltag tritt der Staat streng und kleinteilig auf – Parkverbote werden geahndet, Steuererklärungen pünktlich verlangt –, während in zentralen Fragen des Gemeinwesens Unschärfe, Verzögerung oder Lähmung herrscht. Diese Inkonsequenz untergräbt die Glaubwürdigkeit. Vertrauen erodiert nicht durch spektakuläre Skandale, sondern durch hunderttausend kleine Delegitimierungserfahrungen im Alltag.
Sprache und Schweigen
In dieser Lage sind es die politischen Extreme, die am lautesten sprechen. Nicht, weil sie überzeugendere Inhalte hätten, sondern weil sie überhaupt Inhalte anbieten. Die Mitte dagegen wirkt wie ein Dienstleister ohne Richtung. Zwischen Haushaltssperren, Klimagipfeln und Förderrichtlinien verliert sie die Fähigkeit zur Deutung.
In einer fragmentierten Medienrealität entsteht Autorität nicht mehr durch bloße Präsenz, sondern durch die Kraft, Wirklichkeit zu erklären. Wer diese Deutung nicht liefert, wird selbst gedeutet.
Der Rückzug der bürgerlichen Mitte
Die bürgerliche Mitte ist nicht verdrängt worden – sie hat sich zurückgezogen. Aus Angst, in die falsche Ecke gestellt zu werden, hat sie auf klare Begriffsdefinitionen verzichtet. Migration, Sicherheit, Energiepolitik oder Landesverteidigung wurden kampflos jenen überlassen, die radikaler, lauter und entschlossener auftreten.
So wurde nicht nur der argumentative Boden geräumt, sondern auch die kommunikative Dominanz abgegeben. Aktivistische Gruppen, ob links, islamistisch oder rechtsidentitär, füllen den Raum mit maximaler Empörung, Opfersemantik und unerschütterlicher Entschlossenheit. Die Mitte hingegen hat sich in eine Haltung des Abwartens und Zögerns geflüchtet, die von außen immer häufiger nicht als Anstand gelesen wird, sondern als Schwäche – als Kapitulation durch Schweigen.
Vom Vakuum zur Radikalisierung
Was geschieht, wenn niemand mehr erklärt, wofür die Mitte steht? Es entsteht ein Resonanzraum für alle, die sich ökonomisch, sozial oder kulturell ausgeschlossen fühlen. AfD und Linkspartei bedienen diese Sehnsucht nach Orientierung mit unterschiedlichen, aber komplementären Versprechen: die einen mit autoritären Scheinlösungen, die anderen mit ökonomischen Generalabrechnungen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie laut benennen, was die anderen verschweigen. Ihre Anziehungskraft liegt weniger in den Inhalten als in der Haltung. Wer sich unverstanden fühlt, sucht nicht nach differenzierten Argumenten, sondern nach Klartext.
Die Jugend zwischen Ernüchterung und Aufbruch
Besonders sichtbar wird der Vertrauensverlust unter jungen Menschen. Während frühere Generationen ihre Kritik überwiegend links formulierten, driftet die Gegenwartsgeneration stärker nach rechts – nicht aus Überzeugung, sondern aus Ermüdung. Ermüdung über Debatten, die nicht zu Entscheidungen führen. Ermüdung über Institutionen, die nichts ändern. Ermüdung über ein politisches System, das Prozesse simuliert, aber kaum Ergebnisse liefert. In digitalen Räumen, jenseits von Talkshows und Leitartikeln, entsteht längst eine andere Sprache: radikaler, polemischer, ironisch codiert, aber voller Affekt. Dort gedeihen Narrative von „Systemmedien“, „grüner Bevormundung“ und „Verbotsmoral“. Kein intellektuelles Programm, aber ein emotional anschlussfähiges. Dabei wird leicht übersehen, dass junge Menschen nicht nur besondere Enttäuschung, sondern auch besondere Energie in sich tragen. Sie wollen gestalten, riskieren, Neues wagen. Doch sie treffen auf eine Gesellschaft, die sich immer stärker an Sicherheit, Regulierung und Risikoaversion klammert. Ein Staat, der eher blockiert als befähigt, demotiviert eine Generation, die nach Bewegung hungert.
Wenn Kritik zum Monopol der Extreme wird
Das eigentliche Problem ist nicht, dass die Extreme Kritik üben. Das Problem ist, dass sie die einzigen sind, denen man noch zutraut, Kritik zu üben. Wer sich von der Realität entkoppelt fühlt, folgt nicht der Mitte, sondern jenen, die ihm zumindest das Gefühl geben, gesehen zu werden.
Wenn Kritik zum Monopol der Ränder wird, verliert die Mitte ihre Legitimationskraft. Dann wirkt ihr Handeln nicht mehr als Ergebnis demokratischer Aushandlung, sondern als technokratisches Weiter-so – kalt, distanziert, fremdbestimmt.
Was fehlt, ist: weniger Angst vor Zuspitzung, mehr Lust auf Richtung. Und vor allem: Zuhören. Wer nur sendet, verpasst die Chance, Öffentlichkeit als Dialog zu begreifen. Wer Resonanz will, muss riskieren, sich zu bewegen. Erst dann wird Kommunikation wirksam – und Politik sichtbar.
Medien zwischen Nähe und Distanzverlust
Auch die Medien haben ihren Anteil an dieser Dynamik. Die sogenannte vierte Gewalt agiert immer seltener als Korrektiv und immer häufiger als moralischer Begleiter jener Politik, die sie für anschlussfähig hält. Was früher journalistische Distanz war, erscheint heute als Haltung – und Haltung wird nicht als Methode verstanden, sondern als Schablone.
Dort, wo Medien als verlängerter Arm der Regierungslogik wahrgenommen werden, schwindet ihre Autorität. Gerade bei denen, die sich ohnehin ausgeschlossen fühlen, verstärkt das den Eindruck der Voreingenommenheit – und macht die Resonanzräume der Extreme noch größer.
In der Folge wächst die mediale Resonanzkraft der Ränder: Nicht, weil sie objektiv Recht hätten, sondern weil sie überhaupt Widerspruch erzeugen. Wer sich öffentlich gegen das Sagbare stellt, gewinnt Aufmerksamkeit – und damit Wirkungsmacht. Der Preis dafür ist hoch: Polarisierung, Radikalisierung, Vertrauensverlust. Aber solange die Mitte ihre Begriffe nicht verteidigt, verteidigen andere sie – mit anderen Absichten.
Vertrauen als Voraussetzung
Das Erstarken der Ränder ist kein Betriebsunfall, sondern die Folge eines systematisch hergestellten Bedeutungsverlusts. Parteien der Mitte haben ihre Erzählung verloren, Institutionen ihre Verlässlichkeit, die Politik ihre Wirkungskraft. Vertrauen ist keine Variable, die sich neu justieren lässt. Es ist die Voraussetzung für alles Politische.
Wer dieses Vertrauen zurückgewinnen will, muss mehr tun, als Empörung über Populisten zu äußern. Er muss beantworten, wofür die Mitte steht – und warum.
Für eine Republik der radikalen Mitte
Die Republik braucht eine radikale Mitte – kein lauwarmes Zentrum, sondern ein selbstbewusstes Projekt mit Substanz.
Richtung statt Analyse
Was fehlt, ist keine weitere Analyse, sondern Richtung. Nicht Abgrenzung, sondern ein neues Selbstbewusstsein. Die Republik braucht eine radikale Mitte – nicht als lauwarme Kompromissformel, sondern als politisches Projekt mit Substanz.
1. Das erneuerte Aufstiegsversprechen
Diese Mitte erneuert das Aufstiegsversprechen nicht durch immer neue Förderprogramme, sondern durch Verlässlichkeit: durch funktionierende Institutionen, durch echte Bildungschancen, durch Eigentumsperspektiven für die, die Verantwortung übernehmen. Sie verteidigt das Leistungsprinzip, ohne es zu relativieren. Wer arbeitet, gründet, investiert, muss spüren, dass Einsatz belohnt wird.
2. Freiheit statt Bevormundung
Eine Politik der radikalen Mitte trennt klar: Hilfe für die, die nicht können, aber nicht für die, die nicht wollen. Sie glaubt an Mündigkeit, nicht an Dauerbetreuung. Sie will einen Staat, der ermöglicht, nicht lähmt; der Sicherheit garantiert, ohne Bevormundung.
3. Mehr machen lassen
Konkret bedeutet das: eine Eigentumspolitik, die die Mitte stärkt, und eine Verwaltungsmodernisierung, die Bürgern zeigt, dass ihr Staat funktioniert. Vor allem aber: ein Staat, der die Fleißigen, die Leistungsträger mehr machen lässt. Keine zusätzliche Betreuung, sondern mehr Freiheit. Keine lähmende Regulierung, sondern ein verlässlicher Ordnungspolitischer Rahmen.
4. Eine Ermöglichungsordnung
Diese Mitte ist nicht defensiv, sondern gestaltend. Sie steht in der Tradition der liberalen Aufklärung, weil sie an die Mündigkeit des Bürgers glaubt – nicht an seine dauerhafte Bedürftigkeit. Sie will keinen Betreuungsstaat, sondern eine Ermöglichungsordnung. Einen Staat, der Sicherheit gibt, aber nicht gängelt. Der reguliert, aber nicht lähmt. Der seinen Bürgern zutraut, ihre Angelegenheiten selbst zu ordnen.
5. Werte statt Beliebigkeit
Die bürgerliche Mitte ist nicht technokratisch, sondern bürgerlich. Nicht verhalten, sondern wertegebunden. Und sie weiß: Ohne das Fundament der liberalen Ordnung steht die Tür zur Beliebigkeit offen. Wer das westliche Wertegerüst zur Disposition stellt – sei es aus postkolonialem Revisionismus oder autoritärer Nostalgie –, kündigt einseitig den Gesellschaftsvertrag. Die radikale Mitte hält dagegen: mit Klarheit, Selbstbewusstsein und dem festen Willen zur Verteidigung dessen, was freiheitlich ist.
Von der Reaktion zur Gestaltung – Ein neues Selbstverständnis
Doch Klarheit und Selbstbewusstsein allein genügen nicht. Eine Mitte, die nur verteidigt, bleibt reaktiv. Sie muss wieder zum Gestalter werden – nur so kann sie das Vertrauen zurückgewinnen, das verloren gegangen ist.
Was es jetzt braucht, ist ein neues Selbstverständnis der Mitte: nicht als leerer Raum zwischen Extremen, sondern als aktives Zentrum einer Ordnung, die auf Teilhabe, Verlässlichkeit und Verantwortung zielt. In der der Staat nicht als träge Verwaltungsmaschinerie erscheint, sondern als Ermöglicher – von Bildung, Eigentum, Aufstieg. In der Institutionen dem Gemeinwohl dienen. In der der öffentliche Diskurs nicht durch moralische Grenzziehung, sondern durch argumentative Offenheit geprägt ist. Für Institutionen, die funktionieren. Für Prozesse, die zu Ergebnissen führen. Für Sprache, die benennt, statt zu verschleiern. Und für eine politische Kultur, in der Zuhören, Entscheiden und Umsetzen keine Widersprüche sind, sondern Voraussetzungen.
Substanz statt Lautstärke
Diese Mitte muss das Deutungsmonopol zurückerobern – nicht durch Lautstärke, sondern durch Substanz. Nicht durch PR-Kampagnen, sondern durch spürbare Wirkung. Sie muss das Vertrauen derer zurückgewinnen, die sich abgewendet haben – nicht durch Beschwichtigung, sondern durch klare Angebote: für bezahlbaren Wohnraum, für chancengerechte Bildung, für soziale Mobilität. Und sie braucht den Mut, Konflikte zu benennen, ohne sich in Symbolpolitik zu verlieren. Denn nur wer Konflikte anerkennt, kann sie politisch lösen.
Klartext und Wirksamkeit
Die radikale Mitte muss wieder führen. Sie darf sich nicht länger zwischen Koalitionsarithmetik und moralischer Rücksichtnahme zerreiben. Wer Vertrauen zurückgewinnen will, muss Wirksamkeit zeigen. Wer verstanden werden will, muss Klartext sprechen. Denn Politik, die nicht greifbar ist, wird nicht geglaubt.
Die Entscheidung fällt in der Mitte
Am Ende entscheidet sich die Zukunft dieser Republik nicht an ihren Extremen, sondern in ihrer Mitte. Aber diese Mitte muss wieder sichtbar, hörbar, wirksam werden – nicht als reflexhafter Gegenpol zu den Lauten, sondern als bewusste Entscheidung für eine Republik, die Freiheit nicht erklärt, sondern lebt. Die Ordnung nicht verspricht, sondern garantiert. Und die Leistung nicht relativiert, sondern belohnt.
Die Zeit der Ausreden ist vorbei
Wer diese Republik verändern will, darf sie nicht ablehnen. Er muss ihr zumuten, wieder zu funktionieren – im Kleinen wie im Großen. Nicht gegen die Demokratie, sondern für ihre bürgerliche Wiederbelebung. Die Zeit der Ausreden ist vorbei. Jetzt ist die Mitte am Zug.
Bürgerlich. Effektiv. Freiheitlich. Nicht aus taktischen Gründen – sondern weil alles andere die politische Preisgabe jener Idee wäre, die dieses Land zusammenhält.