Der deutsche Sozialstaat ist zu einem Dschungel geworden. Ein Dickicht aus Programmen, Zuschüssen, Freibeträgen und Sonderregelungen, gewachsen über Jahrzehnte, mit jeder Regierung ein neuer Strauch, eine neue Abzweigung. Was Sicherheit geben sollte, produziert heute Abhängigkeit. Was Fürsorge sein wollte, ist zur Bevormundung geworden. Immer neue Regeln, immer neue Ausnahmen, verwaltet von einem immer größeren Apparat. Das ist kein Ausdruck von Stärke, sondern von Systemversagen.

Familien sind das beste Beispiel. Kindergeld, Kinderzuschlag, Elterngeld, ElterngeldPlus, Wohngeld, BAföG, Mutterschaftsgeld, Unterhaltsvorschuss, Bildungspaket, Pflegeunterstützungsgeld, Landesgelder, Sozialtickets, Familienpässe, Steuerfreibeträge, Bonuszahlungen – und das ist nur ein Ausschnitt. Jede einzelne Leistung mag im Einzelfall sinnvoll sein. In der Summe aber entsteht ein absurdes System von über hundert Einzelleistungen, das nur noch Fachleute verstehen. Familien werden behandelt wie Bittsteller, die erst einmal Formulare und Nachweise stapeln müssen, um Hilfe zu bekommen. Der Staat regelt sie klein, statt ihnen Verantwortung zuzutrauen.

Gleichzeitig verändert sich die Arbeitswelt dramatisch. Digitalisierung, Automatisierung, Alterung – klassische Arbeitsverhältnisse verschwinden, unser Sozialstaat aber klebt am Abgabemodell des 19. Jahrhunderts. Die Twitter-Kollegen Jan Schnellenbach und Baha Jamous haben hier dazu einen lesenswerten Beitrag formuliert. Beispiel Krankenversicherung: Warum verdient die Kasse automatisch mehr, wenn ich eine Gehaltserhöhung bekomme? Welche zusätzliche Leistung bekomme ich dafür? Keine. Mehr Einkommen bedeutet nicht mehr Krankheit. Das System bestraft Leistung blind mit höheren Beiträgen – überholt, widersprüchlich, ungerecht. Wenn schon eine stärkere Belastung vorgesehen ist, dann sichtbar und nachvollziehbar, im richtigen Rahmen: über Steuern.

Und damit zur Brutto-Netto-Fiktion. Warum halten wir an diesem politischen Kunstgriff fest? Als ob Arbeitgeberbeiträge nicht auch von Arbeitnehmern erwirtschaftet würden. Diese künstliche Trennung ist der vielleicht größte Trick seit Bismarck. Sie verschleiert die tatsächliche Belastung und hält die Bürger klein. Ehrlich ist: Alles, was der Staat ausgibt, umverteilt oder investiert, stammt aus der Leistung seiner Bürger. Starke Schultern können und sollen mehr tragen – aber über ein transparentes Steuersystem, das Progression kennt und Differenzierungen ermöglicht, nicht über ein Abgabenlabyrinth.

Natürlich darf es keine Nivellierung geben. Differenzierung bleibt notwendig: Familien mit behinderten Kindern, Alleinerziehende in Not oder pflegende Angehörige brauchen weiterhin gezielte Unterstützung. Aber das sind klar begrenzte Linien, nicht ein ganzes Dickicht. Die Grundfrage bleibt: Wollen wir einen Sozialstaat, der Freiheit zur Entfaltung ermöglicht oder einen, der glaubt, die Menschen bis ins Detail zur Glückseligkeit regeln zu können?

Das Gegenmodell liegt längst auf dem Tisch: die negative Einkommensteuer. Kein Wust an Programmen, sondern ein einfaches Prinzip: Wer wenig verdient, bekommt Unterstützung. Wer mehr verdient, zahlt. Transparent, verständlich, gerecht. Das wäre eine wirkliche Systemalternative und der Beginn einer Debatte, die über das Klein-Klein hinausweist.

Wir müssen größer denken. Denn die alte Logik reicht nicht mehr. Globalisierung und Digitalisierung machen Erwerbsbiografien unberechenbar. Ein System, das starr am Normarbeitsverhältnis hängt, wird daran zerbrechen. Wenn der Sozialstaat Zukunft haben soll, muss er zurück zu seinem Kern: Sicherheit für alle, ohne Eigenverantwortung zu ersticken.

Natürlich wird es nicht auf Knopfdruck gehen. Aber jetzt unter Schwarz-Rot braucht es die Kraft, die Systemfrage zu stellen. Nur eine weitere Kommission, die alle Interessen weichspült, bringt nichts. Warum nicht zwei Kommissionen – eine sozialdemokratisch-sozialistische und eine christdemokratisch-liberale? Jede soll ein Modell bis zum Ende durchdenken. Erst dann entsteht ein echter Ideenstreit, Vision statt Verwaltung. Damit entfällt auch das ohnehin ständig vorgeschobene Argument, wenn man nur dieses oder jenes ändere, dann sei es ein zu kleiner Beitrag, der nicht wirklich ins Gewicht falle. Dabei sind wir längst an einem Punkt, in dem jeder Euro weniger in einem ineffizienten System ein Gewinn ist.

Es geht nicht um die nächste kleine Stellschraube. Es geht um Mut, den Sozialstaat neu zu denken: weniger Bevormundung, mehr Freiheit. Weniger Regeln, mehr Verantwortung. Weniger Flickwerk, mehr Übersicht.

Wir müssen die Systemfrage stellen. Vielleicht braucht es keine unkontrollierbare Kettensäge – wohl aber ein sauber geführtes Schwert, das den Dschungel durchschlägt. Vor allem, bevor man ohne konkreten Zweck über höhere Steuern nachdenkt.