Da war er wieder. Der 3. Oktober. Und mit ihm das gewohnte Ritual der deutschen Selbstvergewisserung. Reden, Rückblicke, Rituale. Einigkeit, Recht, Freiheit – und am Ende doch wieder: Aber der Osten!

Seit 35 Jahren wird über die „unvollendete Einheit” gesprochen, als hätte sie jemand absichtlich unvollendet gelassen. Die Wahrheit ist: Die Einheit ist längst vollzogen – ökonomisch, politisch, kulturell. Nur mental haben zu viele sie nie akzeptiert.

Deshalb muss man den Satz endlich aussprechen, der in der politischen Debatte seit Jahren nur gedacht wird: Es reicht jetzt mal mit Ostdeutschland.

Das Geschäftsmodell der Gekränkten

Aus dem Gefühl der Benachteiligung ist im Osten ein politischer Dauerzustand geworden. Die SED-PDS-LINKE hat ihn nach der Wende kultiviert, die AfD hat ihn perfektioniert: Wir sind die, die übersehen, vergessen, verachtet wurden. Diese Erzählung wurde so oft wiederholt, bis sie sich anfühlte wie eine Tatsache. Aber sie war immer ein Konstrukt; eine bequeme Schutzbehauptung, ein Mythos der Ohnmacht.

Denn wer sich selbst zum Opfer erklärt, entlastet sich. Vom Handeln, vom Gestalten, vom eigenen Anteil am Scheitern. Das Abgehängtsein wurde zur Identität, das Gekränktsein zur Währung.

Dabei war niemand „abgehängt”. Der Osten bekam in drei Jahrzehnten mehr Zuwendung, mehr Förderung, mehr Solidarität als jede Region Europas zuvor. Über zwei Billionen Euro wurden seit 1990 in den Aufbau Ost investiert – eine beispiellose Transferleistung in der Geschichte der Bundesrepublik. Infrastruktur wurde erneuert, Industriebrachen saniert, Altstädte restauriert, Renten angeglichen, Arbeitsplätze gefördert.

Die unbequeme Wahrheit: 40 Jahre Sozialismus

Doch in der Dauerdebatte über das angebliche Versagen des Westens wird die eigentliche Ursache der ostdeutschen Probleme systematisch ausgeblendet: 40 Jahre Sozialismus. Nicht die Bundesrepublik hat dem Osten die marode Wirtschaft hinterlassen, die kaputten Straßen und Häuser, die fehlende Eigenverantwortung, die staatsfixierte Mentalität – das war das Erbe der DDR.

Die SED-Diktatur hatte eine Wirtschaft ruiniert, deren Produktivität bei maximal einem Drittel des westdeutschen Niveaus lag. Sie hatte eine Gesellschaft geformt, in der nicht Leistung und Initiative zählten, sondern Anpassung und Versorgungsdenken. Sie hatte Biografien gebrochen, Familien zerrissen, Menschen bespitzelt und eingesperrt, verbluten lassen, erschossen und ermordet.

Die Wiedervereinigung war nicht der Beginn der ostdeutschen Probleme – sie war deren Ende. Sie befreite Millionen Menschen aus einem gescheiterten System und gab ihnen die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Wohlstand.

Dass dieser Übergang nicht schmerzfrei verlief, ist verständlich. Dass Treuhand-Abwicklungen Arbeitsplätze kosteten, Biografien entwerteten, Unsicherheit schufen gehört zur Wahrheit dieser Jahre. Aber es war nicht die Folge westdeutscher Gier oder Ignoranz, sondern die Konsequenz aus vier Jahrzehnten Misswirtschaft.

Der Westen schuldet nichts

Und trotzdem hält sich das Märchen, der Westen habe den Osten nicht verstanden, habe ihn „übernommen” statt integriert, habe zu wenig „gesehen”. Aber wie kommen Ostdeutsche eigentlich auf die Idee, Westdeutschland schulde ihnen etwas? Woher dieses seltsame Verhältnis, als wäre die Wiedervereinigung eine Art Sozialvertrag zwischen einem reichen Onkel und einem schwierigen Neffen?

Die Wahrheit ist: Der Westen hat dem Osten alles „gegeben”, was ihm ohnehin zustand – und schon gar nichts hat er ihm genommen. Er hat Milliarden investiert, Infrastruktur geschaffen, Verwaltungen aufgebaut, Lebensstandards angeglichen, Rechtsstaat und Demokratie ermöglicht. Er hat das Fundament gelegt, auf dem der Osten heute steht – und manchmal auch stolpert.

Was hätte die Bundesrepublik denn noch tun sollen? Noch ein Aufbauprogramm? Noch eine Sonderregelung? Noch ein „Sonderprogramm Fühlis Ost”? Noch eine Behörde in die neuen Länder verlegen? Noch ein Bundesamt nach Cottbus, noch ein Gericht nach Erfurt? Wer nach 35 Jahren immer noch klagt, der klagt nicht über Politik – der klagt über die unausweichliche Realität der Geschichte.

Das Bild, das über Jahrzehnte gepflegt wurde war nie partnerschaftlich. Es war bevormundend. Und schlimmer noch: Es wurde von beiden Seiten gepflegt.

Die Falle des Paternalismus

Denn die politische Fürsorge, die nach 1990 als Solidarität begann, ist längst zur Paternalismusfalle geworden. Politik behandelte den Osten wie eine Patientengruppe, der man zwar Autonomie wünscht, aber nicht zutraut. Förderstrukturen, Sonderkommissionen, Beauftragte, Gipfel – ein ganzes System der symbolischen Betreuung.

Jede Regierung wollte „den Osten mitnehmen”. Doch in Wahrheit hielt sie ihn fest. Je mehr man über die „Angleichung der Lebensverhältnisse” sprach, desto stärker zementierte man den Unterschied. Man nannte es Solidarität und meinte Mitleid.

Damit hat die Politik nicht nur ein Ungleichgewicht verwaltet, sondern ein Selbstbild konserviert. So entstand ein falsches Verhältnis zwischen Bürger und Staat, das bis heute wirkt. Ein strukturelles Misstrauen, das ausgerechnet durch zu viel Fürsorge genährt wurde.

Wer immer umsorgt wird, verliert irgendwann den Willen zur Selbstständigkeit. Das ist die bittere Wahrheit dieser Geschichte.

Und auch kulturell wurde diese Bevormundung nie beendet, sondern medial dekoriert. In den 2000er Jahren erlebte die Republik eine regelrechte Ost-Verklärung: Oliver Geissens DDR-Show, die endlosen Ostalgie-Formate, die „guten alten Zeiten” zwischen Broiler und Intershop. Brauchte es wirklich all diese sentimentalen Sendungen? Was war das anderes als die fortgesetzte öffentliche Betreuung diesmal im Unterhaltungsprogramm? Popkulturelle Pflege der Befindlichkeit, liebevoll abgepackt in Nostalgie – eine nationale Gruppentherapie mit Musik und Tanz, Jingles und lustigen kleinen Stories aus der ja doch nur zweitschlimmsten Diktatur auf deutschem Boden.

Und diese Bevormundung hat längst absurde Züge angenommen. Weil man dem Gemüt des Ossis nicht zutrauen will, in seiner Melange aus schöngefärbter Vergangenheitsverklärung und gelerntem Anti-Amerikanismus, dass der Russe heute die Welt in Brand steckt, laviert man lieber mit abwägenden Positionen zum verbrecherischen Krieg Russlands. Als müsse man dem Ossi seine eigene Welt bauen, damit er sich nicht unwohl fühlt.

Man spricht von „differenzierten” Positionen zur Ukraine, meint aber Appeasement. Man fordert „Diplomatie”, meint aber Unterwerfung. Das alles nicht aus außenpolitischer Überzeugung, sondern aus innenpolitischer Feigheit – aus Angst, ostdeutsche Wähler zu verstören, die lieber Putin verzeihen als der NATO vertrauen.

Es ist – mit Verlaub – komplett bescheuert. Und es ist die logische Konsequenz einer Politik, die den Osten nie für voll genommen, sondern immer nur für fragil gehalten hat. Eine Politik, die aus falsch verstandener Rücksicht zur Komplizenschaft mit Ressentiments wurde.

Zeit für Eigenverantwortung

Nach 35 Jahren Einheit ist der Punkt erreicht, an dem man von den Ostdeutschen erwarten darf, dass sie sich nicht mehr erklären, sondern handeln. Dass sie sich als Teil des Ganzen begreifen, nicht als Ausnahmefall. Denn Einheit ist kein Dauerprojekt der Empathie – sie ist eine Zumutung zur Verantwortung.

Nicht jedes Problem jedes Menschen ist staatlich bedingt. Nicht jede Kränkung ein strukturelles Defizit. Und nicht jede Enttäuschung eine Folge der Wiedervereinigung. Freiheit bedeutet auch: scheitern dürfen – und aufstehen müssen. Ohne Anleitung. Ohne Förderung. Ohne Entschuldigung.

Wer heute in Sachsen oder Thüringen lebt, ist nicht Opfer westdeutscher Verhältnisse, sondern Akteur seiner eigenen Biografie. Die Chancen liegen auf dem Tisch: Bildungssystem, Infrastruktur, Rechtsstaat, Demokratie, Reisefreiheit, wirtschaftliche Möglichkeiten. Was daraus wird, liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen.

Es ist Zeit, dass Politik das wieder ausspricht. Und dass sie den Osten nicht länger pädagogisiert, sondern normalisiert.

Ein neuer Ton: Die Kanzlerrede

In diesem Jahr hat der Bundeskanzler zum 35. Jahrestag der Einheit genau diesen Wendepunkt markiert. Seine Rede war der Abschluss eines historischen Zyklus.

Gleich zu Beginn erinnerte er daran, dass wir bald genau so lange in einem Land verbunden sein werden, wie wir getrennt waren. Das ist mehr als eine statistische Zäsur. Das ist der symbolische Schlusspunkt der Teilung. Drei Generationen nach dem Mauerfall erreicht Deutschland den Punkt, an dem Vergangenheit und Gegenwart sich berühren – und danach nichts mehr nachzuholen bleibt.

Die 35 Jahre seit 1990 waren in Wahrheit die Jahre der inneren Nachbehandlung. Jetzt endet diese Epoche.

Merz spricht davon, dass es Zeit sei, „mit Zuversicht und Tatkraft nach vorn zu blicken” – und ruft zur „gemeinsamen Kraftanstrengung für eine neue Einheit” auf. Diese Formulierung ist kein Zufall: Sie ersetzt das alte Narrativ der Vollendung durch eines des Aufbruchs. „Neue Einheit” – das ist der begriffliche Bruch mit der Reparatur-Logik der letzten Jahrzehnte.

Denn die alte Einheit war eine nachholende: eine, die sich an Defiziten orientierte, an Vergleichen, an Quoten. Die neue Einheit, von der Merz spricht, ist eine aktive, eine gemeinsame – sie denkt nicht mehr in Herkunft, sondern in Verantwortung.

Auch der Fragenkatalog, den er stellt – „Was wollen wir für ein Land sein? Wie können wir unsere innere Balance erhalten? Wie können wir die innere Einheit unseres Landes stärken?” – ist nicht der Auftakt einer neuen Debatte, sondern ihr Abschluss. Er zieht den Strich unter 35 Jahre Selbstanalyse und öffnet die Perspektive nach vorn.

Es sind keine Fragen der Aufarbeitung mehr, sondern Fragen der Gestaltung. Sie richten sich nicht an einzelne Landesteile, sondern an alle Deutschen gleichermaßen. Damit endet die Sonderrolle des Ostens auch rhetorisch.

Wenn Merz am Ende sagt, „Wir verteidigen unsere Lebensweise nicht als Westdeutsche oder als Ostdeutsche – wir verteidigen sie als Deutsche”, dann hebt er das alte Koordinatensystem auf, in dem wir uns so lange bewegt haben. Diese Rede war nicht versöhnlich, sondern befreiend.

Sie sagt: Der therapeutische Teil ist vorbei. Jetzt beginnt die Eigenverantwortung. Das Kapitel Deutsche Einheit wird damit nicht beendet – es wird endlich gelebt.

Der Osten ist kein Sonderfall

Es wird Zeit, dass auch ostdeutsche Ministerpräsidenten diese Realität annehmen. Eine Ost-MPK, ein Ostbeauftragter, eine eigene Förderlogik – das alles gehört ins Museum der guten Absichten. Denn Gleichbehandlung beginnt mit dem Ende der Sonderbehandlung.

Was soll eine Ost-Ministerpräsidentenkonferenz im Jahr 2025 noch bezwecken? Die Inszenierung einer gemeinsamen Interessenlage, die es so nicht mehr gibt? Die Pflege eines Opferstatus, der längst zur Belastung geworden ist? Diese Formate zementieren die Spaltung, die sie angeblich überwinden wollen.

Und wozu braucht es einen Ostbeauftragten der Bundesregierung, wenn die Probleme Mecklenburg-Vorpommerns sich nicht grundsätzlich von denen Niedersachsens unterscheiden? Immer mehr von der gleichen Bemutterung und des Paternalismus – das ist keine Politik der Augenhöhe, das ist institutionalisierte Bevormundung.

Schlimmer noch: Aus dieser institutionalisierten Sonderrolle ist längst ein Deutungsanspruch geworden. Ostdeutsche Ministerpräsidenten inszenieren sich als Seismografen der Republik, als die, die es früher spüren, tiefer verstehen, besser erklären können. Der Osten als Vorhut, als Frühwarnsystem, als demokratischer Lackmustest für den trägen Westteil.

Diese Erzählung ist so selbstgerecht wie falsch. Wenn in Thüringen oder Sachsen die AfD stärkste Kraft wird, ist das kein Beleg für besondere politische Sensibilität, sondern für das Versagen demokratischer Kultur. Wenn dort Kommunalpolitiker bedroht werden und die Zivilgesellschaft unter Druck gerät, ist das kein anderer Umgang mit Demokratie, sondern deren Erosion.

Die angebliche Ahnung von den Defiziten der Demokratie ist in Wahrheit oft nur die Projektion eigener Ressentiments auf die gesamte Republik. Nicht der Osten versteht die Probleme besser – er hat nur andere, teils selbst geschaffene. Der Osten ist nicht die Avantgarde der Demokratie.

Es muss aufhören mit dieser Anmaßung, als hätte die DDR-Erfahrung eine besondere Klarheit über die Bundesrepublik verschafft. Das Gegenteil ist der Fall: Wer 40 Jahre in einer Diktatur gelebt hat, braucht nicht weniger, sondern mehr Zeit, um Demokratie wirklich zu verstehen. Das ist keine Schande – aber auch kein Adelstitel. Anders als das neue mit den Alliierten auszuhandelnde Modell der Demokratie im Westteil stand zur Einheit genau dieses Erfolgsmodell Pate. Man musste nichts erfinden, weil die Schablone bereitstand. Und es hat deswegen auch so schnell funktioniert.

Deutschland besteht aus Regionen mit unterschiedlichen Stärken, Kulturen, Eigenheiten. Der Unterschied zwischen Thüringen und Bayern ist nicht größer als zwischen dem Saarland und Schleswig-Holstein. Niemand verlangt vom Allgäu, dass es sich „integriert”. Warum also vom Osten?

Es geht nicht um Gleichmacherei, sondern um gleiche Chancen. Und die gibt es längst – für jeden, der sie ergreift. Wer das nicht will, darf sich nicht hinter seiner Herkunft verstecken.

Schluss mit der Betreuungsmentalität

Die Einheit ist nicht mehr zu vollenden, sie ist zu leben. Das ist der Auftrag des 35. Jahrestags: Schluss mit der Betreuungsmentalität. Schluss mit der ewigen Sonderbehandlung. Schluss mit der kollektiven Therapie.

Der Osten braucht kein Mitleid. Er braucht Selbstbewusstsein – und die Freiheit, endlich normal zu sein. Er braucht keine weiteren Förderprogramme, sondern das Zutrauen, dass seine Bürger ihr Leben selbst gestalten können. Und er braucht die Ehrlichkeit, dass nicht jede Schwierigkeit ein Erbe der Wende ist, sondern oft genug das Ergebnis eigener Entscheidungen oder das Schicksal, das Menschen überall in diesem Land teilen.

Wer heute AfD wählt und sich dabei als Opfer westdeutscher Ignoranz inszeniert, hat die Freiheit missverstanden. Freiheit heißt nicht, dass der Staat alle Wünsche erfüllt. Freiheit heißt, dass man selbst verantwortlich ist für das, was man aus seinem Leben macht.

Und Demokratie heißt nicht, dass man immer Recht bekommt, sondern dass man lernt, mit Niederlagen umzugehen, Kompromisse über den eigenen Egoismus zu stellen und Verantwortung anzunehmen.

Dem Bockenförde-Diktum nach braucht es einen Wertekonsens in der Demokratie, der unausweichlich eine Toleranz begründen muss, die wechselseitig trägt.

Demokratische Freiheit bedeutet deswegen auch nicht, dass man sich vollkommen gehen lassen kann und über Menschen anderer politischer Einstellung, Hautfarbe oder Religion herfällt als rottete man sich zur nächsten Kneipenschlägerei zusammen.

Darum: Es reicht jetzt mal mit Ostdeutschland.

Nicht, weil der Osten nichts wert wäre. Sondern weil er endlich so behandelt werden sollte, wie er es verdient: Als normaler Teil einer vielfältigen Republik. Als Regionen mit Stärken und Schwächen, mit Chancen und Herausforderungen – wie überall in diesem Land.

35 Jahre sind genug. Die Einheit ist da. Jetzt muss sie nur noch gelebt werden. Ohne Entschuldigung. Ohne Sonderstatus. Ohne Ausrede.