Eine Replik auf „Es reicht jetzt mal mit Ostdeutschland“.

Lieber Daniel,
ich habe deinen Text als Ostdeutscher gern gelesen. Ehrlich. Und doch blieb ein Störgefühl. etwas stimmt an der Tonlage nicht. Es ist dieses leise „Jammer-Ossi“-Echo, das Leistung kleinredet – Leistung unter widrigen Bedingungen, vor 1990 und danach. Genau darüber wollte ich nicht nur grübeln. Also habe ich mich hingesetzt und versucht, es zu formulieren.

Wie du weißt, habe ich in den letzten Monaten zwei Bücher gelesen, die meinen Blick auf Europa und vor allem auf die Nachkriegszeit geordnet haben: „Das Licht erlosch“ von Ivan Krastev und Stephen Holmes sowie „Europa: eine persönliche Geschichte“ von Timothy Garton Ash.

In einem Podcast von Januar 2025, den ich heute beim Joggen gehört habe, sagte Ash einen bemerkenswerten Satz mit Verweis auf die Frage von Kissinger, welche Telefonnummer man in Europa anrufen sollte. Ash dazu „Die Antwort von Donald Trump ist ganz klar: Es ist eine Telefonnummer in Budapest. Es ist die Telefonnummer von Viktor Orban“. Das meinte er nicht als Kompliment, aber darin steckt eine interessante Wahrheit und ein Rahmenwechsel, der sich mit zwei weiteren Zitaten von Ash noch besser beschreiben lässt: „Central Europe is back“ und: „Siberia does not begin at Checkpoint Charlie.“

Darum geht es mir: Ostdeutschland ist nicht der deutsche Sonderfall, sondern Teil Mitteleuropas und Mitteleuropa ein elementares Puzzlestück der europäischen Geschichte und Demokratie seit 1989. Wer diesen Rahmen wählt, entdramatisiert deutsche Selbstgespräche und versteht den Osten als Teil eines größeren Bogens gemeinsamer Transformation.

Du schreibst vom Ende der „Sonderbehandlung“. Einverstanden. Paternalismus ist keine Politik. Aber dein schnelles Fazit „Der Westen schuldet nichts“ sitzt mir zu locker. Ash beginnt sein Europa-Buch mit einem einfachen, ehrlichen Satz: „I feel myself blessed by historical luck to have grown up in England…“ Historisches Glück ist kein Makel, es ist Kontext. Genauso sollten wir über unterschiedliche Startbedingungen nach 1945 und 1990 sprechen.

Denn beides ist wahr: Die Aufbauleistung Westdeutschlands bleibt beeindruckend und gleichzeitig war sie eingebettet in Bündnisse, Kapital und Märkte. Im Osten standen Demontagen, Reparationen und vier Jahrzehnte Diktatur. Wer Ursachen ernst nimmt, kommt ohne diese Asymmetrie nicht aus. Aber wer heute jedes Defizit auf 1990 schiebt, macht es sich genauso leicht. Genau dieses „am Westen gescheitert“-Narrativ wurde nach der Flüchtlingskrise 2015 vielerorts zum populistischen Hebel, um bequem von echten Problemen und eigenen Versäumnissen abzulenken. Als Sachse erkenne ich die Muster.

Leistung, Engagement und Eigenverantwortung begannen im Osten nicht erst 1990. Sie zeigten sich im Alltag jedes einzelnen und kulminierte 1989 in der größten zivilgesellschaftlichen Leistung der jüngeren deutschen Geschichte. Diese Biografien verdienen Respekt, nicht Etiketten. Dein Text trifft zu, wenn er Selbstviktimisierung kritisiert. Er verfehlt aber den Punkt, wenn er das Narrativ so laut stellt, dass die gelebte Verantwortung darunter verschwindet.

Warum also immer noch die Erregung? Weil die politischen Codes nach 1989 häufig als einseitiger Imperativ erlebt wurden: „Werdet wie wir.“ Krastev nennt das die „Politik der Imitation“. Der entscheidende Gedanke: Imitation produziert Asymmetrie und damit Ressentiment. Imitieren heißt eben auch: sich ständig messen lassen, nie genügen, immer aufholen. Diese Sichtweise erklärt heute mehr als viele Moralpredigten.

Und ja: Populismus in Mittel- und Osteuropa speist sich selten aus ökonomischer Not, sondern oft aus demografischer Angst und der Furcht vor kulturellem Verlust. Krastev hat das prägnant formuliert: „The fear of being outnumbered is deeply rooted in politics.“ In schrumpfenden Gesellschaften wird aus dieser Angst schnell Identitätspolitik und daraus wieder populistische Mobilisierung.

Wenn wir Ostdeutschland als Mitteleuropa denken, fällt dieser Hoch-Tief-Reflex weg. Dann reden wir nicht über einen Patienten im deutschen Haus, sondern über eine Region, die wie Polen oder Tschechien in der gleichen Wetterlage segelt: Demografie, Strukturwandel, Migration, Sicherheit. Das ist nüchterner und hilfreicher als Rollenprosa.

Du sagst „der Westen schuldet nichts“. Das ist moralisch verständlich, aber politisch unproduktiv. Die Einheit war kein Almosenvertrag, sondern eine gemeinsame Investition. Wer das anerkennt, kann fordern.

Du sagst „Sonderbehandlung beenden“. Ja. Aber Normalisierung entsteht nicht durch Erziehungsrhetorik, sondern durch das Ende der Schablonen. Mitteleuropa statt Ost-West: gleiche Zumutungen, gleiche Chancen, gleiche Sprache.

Du sagt „Eigenverantwortung jetzt“. Ja, unbedingt. Nur: Anerkennung ist keine Ausrede, sondern Voraussetzung. Wer Leistung würdigt, darf Verantwortung verlangen.

Wenn wir Ash ernst nehmen, endet die semantische Trickkiste, in der „Europa“ westwärts verengt und „Osten“ zur ewigen Abweichung erklärt wird. „Central Europe is back“ – als analytischer Rahmen und politischer Tonfall. Ostdeutschland ist Mitteleuropa. Wer so schaut, verlässt die Reizfigur „Ost“ und beendet die Betreuungsdebatte.

Und wir können beides zugleich sagen, ohne zu blinzeln: Die Bundesrepublik hatte Glück und Ostdeutsche haben ihre Freiheit erarbeitet. Beides verpflichtet.