Es ist ein paradoxes Phänomen: Wer heute das Offensichtliche ausspricht, gilt als Provokateur. Wer sich nicht mit Euphemismen maskiert, sondern nüchtern beschreibt, wird moralisch taxiert. Und wer sich auf das Bürgerliche beruft: Maß, Realität, Selbstverantwortung, der steht plötzlich im Verdacht, reaktionär zu sein. Die politische Linke, wie sie sich heute präsentiert, führt keine Revolution durch, sondern eine Reformation der Sprache. Sie ersetzt Begriffe, verschiebt Bedeutungen und setzt neue moralische Markierungen. Das Werkzeug: semantische Enteignung.

Gemeint ist damit die ideologische Umdeutung von Begriffen, die einst neutral oder sogar verbindend waren. Was früher Toleranz bedeutete, meint heute Akzeptanz ohne Widerspruch. Was einst Diskriminierung war (ein klarer juristischer Tatbestand), ist heute das subjektive Empfinden, benachteiligt zu sein. Begriffe verlieren ihre beschreibende Wirkung und werden zu normativen Maßstäben. Diese Enteignung betrifft nicht nur einzelne Wörter – sie betrifft das gesamte Gefüge unserer gemeinsamen, politischen Realität. Und genau das ist das Ziel: Wer das Bürgerliche zersetzen will, beginnt mit seiner Sprache.

Zwar bedienen sich auch andere politische Strömungen der Umdeutung von Begriffen, doch die institutionelle Verankerung der identitätspolitischen Linken in Bildung, Kultur und Medien verleiht ihrer semantischen Enteignung eine besondere Durchschlagskraft, deshalb ist sie der Fokus dieses Textes.

Klassische Linke vs. identitätspolitische Linke: Ein Bruch in der Idee

Die alte Linke war geprägt von einem klaren Weltbild: Die Verhältnisse prägen den Menschen. Marx’ berühmter Satz „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ war kein bloßes Dogma, sondern ein Ausdruck materialistischer Nüchternheit. Die Klasse war entscheidend, nicht das Gefühl. Die materialistischen Gegebenheiten waren das Problem, nicht das Wort. Die neue Linke kehrt dieses Verhältnis um. Statt ökonomischer Unabhängigkeit zelebriert sie emotionale Betroffenheit. Statt Analyse der Macht gibt sie sich dem Kult der Identität hin. Und an die Stelle eines universalen, humanistischen Anspruchs tritt ein partikularer Selbstbezug. Das Bewusstsein bestimmt das Sein – und schlimmer noch: Das empfundene Bewusstsein, das „Sich-gelesen-Fühlen“, ersetzt Beobachtung und Argument.

Das Ergebnis ist eine Politik der Zeichen, nicht der Substanz. Eine Ethik der Sichtbarkeit, nicht der Verantwortung. Ein Kampf um Begriffe – nicht um Gerechtigkeit. Denn in Wahrheit hat sich diese neue Linke längst von jenen Gruppen entfremdet, in deren Namen sie einst auftrat: Arbeiter, Angestellte, untere Mittelschicht – sie gelten heute nicht mehr als politische Subjekte, sondern als Teil des Problems: „toxisch“, „strukturell privilegiert“, „bildungsfern“. Und so kehrt sich das Verhältnis um: Die alte linke Basis wird von den neuen Funktionären ihrer eigenen Bewegung diszipliniert. Die Linke hat vergessen, dass die Würde der Arbeit nicht gegendert werden will.

Die neue Moral: Subjektivierung von Realität

Im Zentrum der identitätspolitischen Logik steht das eigene Empfinden – nicht als Teil einer Diskussion, sondern als endgültige Autorität. Nicht mehr: „Was ist der Fall?“, sondern: „Wie fühlt sich das für mich an?“ Diese Subjektivierung zersetzt die Idee einer geteilten Realität. Wer sich diskriminiert fühlt, ist diskriminiert. Wer sich verletzt fühlt, wurde verletzt. Unabhängig von Absicht, Kontext oder Fakt. Das Ergebnis: Jede Bewertung wird zur Grenzüberschreitung, jedes Unbehagen zur Mikroaggression. Und Sprache? Sprache ist nicht länger Kommunikationsmittel, sondern Angriffsinstrument. Wörter wirken nicht, sie verletzen. Damit ist jede Diskussion bereits präjudiziert: Die Definitionsmacht liegt beim Empfindenden. Das ist die logische Folge semantischer Enteignung: Begriffe verlieren ihre geteilte Bedeutung und werden zum Besitz Einzelner.

Anpassung galt lange als zivilisatorische Kompetenz. Heute ist sie Verrat. Wer sich der Mehrheit anschließt, unterwirft sich. Wer Regeln akzeptiert, verinnerlicht „Systemgewalt“. Die neue Moral verlangt nicht Integration, sondern absolute Anerkennung individueller Besonderheiten. Das Ich wird zur politischen Entität. Und jedes Kollektiv, das nicht vollständig darauf reagiert, wird zum Täter. Der Konflikt liegt nicht in konkreten Handlungen – sondern in der bloßen Existenz von Normen. Was einst als gesellschaftlicher Zusammenhalt galt, wird jetzt als strukturelle Unterdrückung gelesen.

In dieser Logik ist das Bürgerliche –maßvoll, pragmatisch, institutionell verankert– das Symbol der Unterdrückung schlechthin. Nicht, weil es sich autoritär verhält – sondern weil es existiert. Es repräsentiert Normalität – und Normalität wird als gewaltsame Setzung interpretiert. Dabei ist „normal“ im ursprünglichen Sinn nichts weiter als ein statistischer Mittelwert. Aber in der Welt der identitätspolitischen Rhetorik ist selbst Statistik verdächtig. Wer Durchschnitt benennt, „macht unsichtbar“. Wer Unterschiede benennt, „schafft Hierarchien“. Das ist der eigentliche Hass: Nicht auf Menschen, sondern auf die Existenz von objektiven, überprüfbaren Maßstäben.

Es gibt kaum eine rhetorische Figur, die den Verfall der Bedeutung deutlicher auf den Punkt bringt als die Formulierung: „Das wird als XY gelesen.“ Gemeint ist: Ich entscheide, was du gesagt hast. Nicht du als Sprecher gibst dem Satz Bedeutung – sondern ich als Zuhörer. Du sagst: „Ich halte das für problematisch.“ Ich antworte: „Das wird als frauenfeindlich gelesen.“ Und schon ist die Diskussion beendet. Nicht argumentativ, sondern moralisch. In dieser Sprachwelt liest man nicht mehr Texte, man liest Menschen. Wer aber Menschen liest, der kann sie auch umschreiben. Sprache wird nicht länger verwendet – sie wird kontrolliert. Und damit sind wir bei der totalen semantischen Enteignung: Die Bedeutung gehört nicht mehr dem Satz, sondern dem Urteil. Am beunruhigendsten ist nicht der Ursprung dieser Logik, sondern ihre Reichweite. Sie bleibt nicht auf akademische Zirkel beschränkt. Sie sickert in Bildungseinrichtungen, Unternehmen, Redaktionen, Verwaltungen – überall wird mit neuer Semantik gearbeitet.

Warum? Weil sie den Eindruck moralischer Überlegenheit erzeugt. Weil sie Empathie simuliert, wo Urteil gefragt wäre. Und weil sie unter dem Deckmantel der Toleranz auftritt während sie jeden Widerspruch moralisch sanktioniert. Die bürgerliche Mitte, stets auf Konsens bedacht, übernimmt die Begriffe. Und mit ihnen die Deutungen. Und mit den Deutungen die Konflikte. Wer fremde Sprache übernimmt, verliert seine eigene.

Wenn alles politisch ist, bleibt nichts verbindlich

Demokratie basiert nicht auf Einigkeit, sondern auf Teilhabe am Gleichen: gleiche Verfahren, gleiche Begriffe, gleiche Wirklichkeit. Wenn aber Begriffe ideologisch aufgeladen und subjektiv beansprucht werden, verliert die Gesellschaft ihr gemeinsames Bezugssystem. Was bleibt, ist Fragmentierung: Jeder lebt in seiner Bubble – mit eigener Moral, eigenem Vokabular, eigener Wahrheit. Die Folge ist nicht Diversität, sondern Zersplitterung in Gesinnungsblasen Kein Streit um Positionen, sondern um das, was überhaupt gesagt werden darf. Wo früher Debatte war, herrscht heute Empörungsökonomie. Nicht Argumente entscheiden, sondern moralische Aufladung. Diskurs wird ersetzt durch Distinktion: Wer „richtiger“ fühlt, hat recht. Diese Logik ist im Kern zutiefst autoritär, denn sie kennt keine Unterscheidung zwischen Person und Position – nur Zustimmung oder Ausgrenzung. Die neue politische Korrektheit ist keine Frage des Takts, sie ist ein Code zur Ausschaltung Andersdenkender.

Am meisten gefährdet ist die bürgerliche Mitte, jene Kraft, die Demokratie trägt, Kompromisse ermöglicht, Fortschritt mit Verlässlichkeit verbindet. Doch statt sich gegen die ideologische Überfrachtung zu behaupten, vollzieht sie sprachlich Selbstaufgabe: Sie übernimmt die Begriffe derer, die sie verachten. Der Bürger wird zum „Ally“, die Institution zur „Struktur“, Verantwortung zur „Reproduktion von Macht“. Und wer sich nicht umerzieht, wird uminterpretiert. Diese Dynamik ist brandgefährlich, denn sie macht das Zentrum zum Ort der permanenten Defensive: intellektuell, politisch und moralisch. Diese Entwicklung erzeugt eine scheinbar paradoxe Gegenbewegung: Nicht, weil „das Land nach rechts rückt“, sondern weil die Mitte sprachlos gemacht wird und Wähler sich dort Gehör verschaffen, wo überhaupt noch Klartext gesprochen wird. Nicht selten führt das zu einem echten Missverständnis: Der Protest richtet sich nicht gegen Minderheiten, sondern gegen die semantische Bevormundung durch Minderheitenaktivismus. Das ist der Preis ideologisierter Sprache: Sie radikalisiert die Entfremdeten.

Und tatsächlich: Wo die Mitte verstummt, sprechen die Ränder. Vor allem die extreme Rechte versucht, dieses Vakuum im Windschatten reaktionärer Ressentiments zu besetzen. Genau dieses Zusammenspiel aus linker semantischer Enteignung und dem grundlosen Rückzug des Bürgertums hat rechtsidentitäre Diskursräume geöffnet – Räume, die vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wären.

Links und bürgerlich schließt sich nicht aus

Es ist ein schwerer Irrtum zu glauben, Bürgerlichkeit sei per se konservativ oder gar reaktionär. Bürgerlichkeit –im besten Sinne– bedeutet Verantwortung, Mäßigung, Realitätssinn und institutionelle Bindung. Und das sind keine Feinde der Aufklärung. Im Gegenteil: Sie sind ihr Fundament. Was derzeit als „links“ auftritt, ist in Wahrheit eine moralistische Rebellion gegen jede Form von Norm. Aber: Echte linke Politik beginnt dort, wo sie Realität gestaltet, nicht Sprache zensiert. Wo sie die Lebensverhältnisse verbessern will und nicht das Vokabular der Mehrheitsgesellschaft umerzieht. Die klassische Linke –sozial, gerecht, universalistisch– war nie Feind des Bürgerlichen. Sie war es, die Bürgerrechte gegen Autorität verteidigt hat, die Arbeiterbildung förderte, die Rechtsstaat und Parlamentarismus nicht bekämpfte, sondern mitformte. Wer all das opfert für die kurzfristige moralische Distinktion identitätspolitischer Milieus, der verrät nicht nur seine Herkunft – sondern auch die gesellschaftliche Wirkungskraft seiner Ideen. Der Rückzug der bürgerlichen Mitte ist keine Notwendigkeit – er ist eine Reaktion. Und Reaktionen können korrigiert werden.

Es geht also nicht um einen ideologischen Rollback. Es geht auch nicht um ein Zurück zur Vergangenheit. Es geht darum, eine Sprache der Gemeinsamkeit wiederherzustellen, die nicht auf Kränkungen, sondern auf geteiltem Maß basiert. Ein linker Humanismus muss nicht identitätspolitisch sein, er kann universalistisch, realistisch und dennoch empathisch sein, wenn er sich seiner eigenen Wurzeln besinnt. Was wir brauchen, ist kein Kampf gegen das Bürgerliche. Sondern ein linkes Denken, das bürgerliche Tugenden wieder als Stärke erkennt: Maß statt Moralismus, Verantwortung statt Opferhaltung und Realismus statt Regression.

Genau deshalb ist es an der Zeit, sich wieder in der bürgerlichen Mitte zu treffen – nicht als Einheitsfront, sondern als Ort geteilter Realität. Wir werden weiterhin unterschiedliche politische Ansichten haben, das ist der Sinn einer pluralistischen Demokratie. Aber wir brauchen ein gemeinsames sprachliches Fundament, das es uns erlaubt, diese Unterschiede auszutragen, ohne uns gegenseitig die Legitimität abzusprechen. Nur dort, wo Sprache wieder verbindlich ist, kann der politische Dialog unter Demokraten gelingen – und nur dort wird Demokratie mehr sein als ein Schlagabtausch aus Parallelwelten.