Er hat sich vorbereitet. Tim Klüssendorf, der 33-jährige da noch kommissarische Generalsekretär der deutschen Sozialdemokratie hat es sich schon vor Beginn des SPD-Bundesparteitags zur Aufgabe gemacht, der alten Tante SPD eine Verjüngungskur zu verpassen. Strukturen zur Mitwirkung in der Partei und die Sprache sollen einfacher werden.

Wenige Minuten vor Beginn des Parteitages erscheint Klüssendorf bei phoenix zum Interview. Kritisch befragt zum womöglich ausgelutschtesten Satz, den sich eine Partei in einen Leitantrag schreiben könne, »Es darf kein Weiter-so geben«, erwidert er, was er dazu vorbereitet hat: Man könne eine solche Sprache nicht sofort umschalten, er merke das an sich selber. Er stünde wahrscheinlich gar nicht dort, wenn er diesen Polit-Sprech nicht auch selbst beherrschen würde, es brauche jetzt den Auftrag, sich Stück für Stück zurückzubewegen zu einer Sprache, die jeder verstehe, von Tag 1 an würde das aber nicht gehen.

Diese Versatzstücke wird man im Verlauf des Parteitages noch häufiger von ihm hören, auch in seinen Redebeiträgen wird er es so platzieren.

Eine wirklich erfreuliche Änderung. Es ist also nicht mehr „die Kommunikation“ schuld in entweder der Variante, die Wähler hätten die Botschaften nicht verstanden oder alternativ, man habe diese nicht attraktiv und ausreichend ausgespielt. Jetzt will man erkannt haben, die Wähler verstünden die SPD schon wegen Syntax und Semantik grundsätzlich nicht mehr.

Nach dem ersten Tag des Parteitages kann man festhalten: Das stimmt. Aber anders als Klüssendorf wohl meinte.

Was folgt sind die Bewerbungsreden von Bärbel Bas und Lars Klingbeil für die Wahl zum Parteivorsitz. Und Klüssendorf soll recht behalten, man kann „die Sprache“ offenbar nicht sofort umschalten: Solidarität, Aufstiegsversprechen, Bildung, Gleichberechtigung, Gewerkschaften, Bauarbeiter, Kampf gegen Rechts, Superreiche, Sozialstaat, der Späti.

Eine derartige Melange aus inhaltleerer Floskelparade, pseudomotivierender Phrasendrescherei und knusprig aufgebackenen Allgemeinplätzchen aus dem lang gereiften Sauerteig sozialdemokratischer Selbstvergewisserung hat man noch nicht gehört. Klingbeil erklimmt zusätzlich noch durch seinen an sich selbst und der Welt leidenden Duktus und einem aufgesetzten, unerträglich pastoralen Timbre den Altar von Bruder Johannes aus Wuppertal. Da durfte man schon froh sein, dass Bas nicht auch noch den immer in Wahlkämpfen ausgepackten Ruhrpott-Slang von Hannelore Kraft hervorgekramt hat. Lobend mag man nur die hart formulierte Kritik von Bas an der innerparteilichen, aber vor allem öffentlich ausgetragenen Zerstörung von Saskia Esken erwähnen.

In der sich anschließenden Aussprache wurde es wild. Nicht sprachlich, aber inhaltlich. Während Funktions- und Mandatsträger gewohnt und routiniert sozialdemokratische Standards proklamierten und Geschlossenheit bis hin zur Bettelei um Stimmen für die neuen Vorsitzenden einforderten, nutzten einzelne Delegierte die Chance für das Vorbringen ihrer Partikularinteressen auf die große Bühne der nach Identität und Inhalt lechzenden Bundes-SPD. Für wirklich jedes Thema gab es Für und Wider, Pro und Contra, die eine klare Richtung und dann die genau gegenteilige. Etwaige Änderungen zum Leitantrag wurden von der Antragskommission leidlich im Hintergrund in den Antragstext eingefloskelt und zur Unkenntlichkeit ausdifferenziert.

Mit Blick auf den anstehenden Seeheimer-Abend wurde dann unter Jubel der Delegierten ein Antrag auf Ende der Debatte, also das Abwürgen der Generalaussprache angesichts von 16,4 Prozent bei der letzten Bundestagswahl, beschlossen, der noch verbliebenen 35 Rednern das Wort nahm. Für die Delegierten war offenbar alles gesagt. Oder sie hatten gemerkt, dass jedes Pils mehr Gehalt besitzt als das, was sich auf der Bühne bot: Alles kann, nichts muss.

Als Friedrich Merz auf dem Bundesparteitag der CDU im Oktober 2024 in Berlin seine Rede hielt, erwarteten Journalisten wie Delegierte dort eine fulminante, mitreißende Rede – den Generalangriff auf die Ampel, die innerparteiliche Motivation für den Wahlkampf. Doch 50 Minuten lang skizzierte der heutige Bundeskanzler einem deswegen auch etwas skeptischem Publikum eine aktualisierte Interpretation der Christdemokratie. Erste, schnell geschriebene Artikel über die gefühlte Enttäuschung im Saal wichen gleichen Tages noch anerkennenden Reportagen und Meinungen über die nun auch mit dem Grundsatzprogramm normierte Idee einer modernen CDU im besten Sinne. Aus der fundamentalen Krise der Union 2021 hatte sich mit Friedrich Merz jemand an die Spitze gestellt, der einen Plan, eine intellektuell und politisch fundierte Vorstellung von dem hatte, was für die CDU nun folgen müsse. Bei der SPD dieses Bundesparteitags vermisst man auch nur eine einzige klare Idee dazu.

Man mag viel über Dynamiken eines Parteitags philosophieren oder die berühmt-berüchtigte Parteitagsregie anführen, auch das Streicheln der Parteiseele mag ihren berechtigten Raum haben; als aber die Ergebnisse der Wahlen zum Parteivorsitz kamen und Lars Klingbeil mit 64,9 Prozent abgestraft wurde, ohne dass – wie er selbst anmerkte – die Kritik an ihm zuvor verbalisiert wurde, machte dies angesichts der völlig richtungslosen Debatte eines deutlich: Auch die Delegierten hatten keine Sprache, keine Worte, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Im Raum blieben und bleiben die Fragen: Wer sind wir? Was wollen wir? Warum SPD?

Antworten darauf suchten nicht nur die Delegierten vergeblich – auch die interessierte Öffentlichkeit. So geht es jedenfalls nicht, SPD, wenn man Volkspartei sein will und Regierungsverantwortung in diesem Land trägt. Da hat auch jeder Staatsbürger ein Recht darauf, zu erfahren, was Inhalt und was Ziel der Partei ist.

Bei seiner Vorstellung als neuer Generalsekretär wiederholte Tim Klüssendorf die bereits beschriebenen Versatzstücke. Und verstieg sich nach Minuten der Erläuterungen von Strukturfragen und Sprache zu dem Satz „Und natürlich sind mir auch ein paar Inhalte besonders wichtig.“ Na, danke! 

Bevor die SPD sich mit ihrer Sprache auseinandersetzt, sollte sie erstmal überlegen, ob -und wenn ja, was- sie den Menschen überhaupt zu sagen hat. Es hat nämlich wirklich niemand mehr verstanden.