Der SPD-Parteitag ist zu Ende. Und er vermied die große Debatte darüber, was für eine Partei die SPD eigentlich ist. Für wen sie Politik machen möchte. Wessen Interessen sie vertritt. Als interessierter Beobachter möchte ich in vier Thesen einen Anhaltspunkt für die Suche nach dem Ich einer völlig verunsicherten sozialdemokratischen Partei geben:
Die SPD muss wieder „Partei des Bildungsaufstiegs“ werden. Das war sie einmal, aber momentan kommt sie nicht mit. Sie hat keine Antworten auf aktuelle Herausforderung eines multiethnisch geprägten Bildungssystems von Primarstufe bis zum tertiären Bereich. Dabei belegen eine zunehmend höhere Anzahl an Schülern, die die Schule ohne Abschluss beenden und eine immer höhere Anzahl an Schülern, die beim Schuleingang schon so große Probleme haben (Sprache, Konzentration, Aufmerksamkeit) überhaupt mitzukommen, dass das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung und Leistung längst nicht mehr gilt. Die Anknüpfungspunkte liegen auf der Hand: Unterschiedliche kulturelle Prägungen der Familien und unterschiedliche Sprachniveaus, Fördern, aber auch Leistung einfordern sowie gerecht belohnen, überlastete Lehrkräfte dabei unterstützen, den gesellschaftlichen Trend zunehmender Unselbstständigkeit (weniger Eigenverantwortung) zu brechen. Diese Aufzählung ist nicht abschließend. Es gäbe also viel zu tun. Gerade für eine sozialdemokratische Partei, da der Bildungsaufstieg schlicht für alle Menschen sehr wichtig ist, die Familien gründen und Kinder bekommen. Egal woher sie kommen, wie viel sie verdienen, wo sie wohnen, wie alt sie sind, welche politischen Überzeugungen sie haben, etc. Jeder möchte das Beste für seine Kinder und möchte, dass es seine Kinder einmal besser haben.
Die SPD muss wieder „Partei der Arbeit(er) und kleinen Angestellten“ werden. Das war sie einmal, aber momentan kommt sie nicht mit. Sie hat keine Antworten, auf eine sich zunehmend dynamisierende Arbeitswelt. Die z.B. zu häufigerem Wechsel in den Erwerbsbiographien, zu häufiger gleichzeitigen Erwerbsquellen (Hauptjob, Minijob, freiberuflich) und zu höherem Druck auf lebenslange Weiterbildung und Offenheit für Wandel in der Arbeitswelt führt. Der Koordinationsaufwand im Alltag der Menschen ist gestiegen und alles hat sich beschleunigt. Gleichzeitig wollen aber die Menschen souverän bleiben und ihr Arbeitsleben selbstbestimmt gestalten. Aber auch für Leistung belohnt werden und nicht das Gefühl haben, dass ein gefräßiger Staat sie in Form von Steuern und Abgaben um den verdienten Lohn ihrer Arbeit bringt. Der Sozialstaat ist wichtig, um die Schwachen auf den Schultern der Starken zu tragen. Niemand wird fallen gelassen. Wichtig ist aber auch, dass der Sozialstaat nicht ausgenutzt wird. Das adressiert die SPD nicht. Doch das alles sind Punkte, bei denen eine Partei der Arbeitnehmer und der Leistungsträger punkten könnte.
Die SPD muss wieder „Partei der Proletarier“ werden. Das war sie einmal, aber momentan kommt sie nicht mit. Damit meine ich weniger das Beschäftigungsverhältnis, sondern viel mehr den Habitus der Menschen. Die SPD kannte früher keine Scham, keine Zurückhaltung und keine Exklusivität. Nämlich wenn es darum ging, auf Menschen zuzugehen und mit ihnen auf Augenhöhe zu sprechen. Ganz egal wie intellektuell, wohlhabend, sozialisiert oder wie sie sich verhalten. Egal wo sie herkommen, wer sie sind oder wer sie sein wollen. Die SPD ist eine Partei für alle! Momentan sehe ich sie eher als eine Partei, die sich vor allem auf urbane, gebildete und ältere Menschen fokussiert. Mit ihren spezifischen Themen und Lebenswirklichkeiten. Fast scheint es ihr peinlich zu sein, wenn sie mit Menschen in Kontakt kommt, die außerhalb dieser sozialen Sphäre leben. Falsch! Genau da muss die Partei hin! Auch und gerade, weil es sich dabei um kleinbürgerliche, „proletarische“ Milieus handelt. Und wenn sie schon dabei ist, könnte sie auch gleich ihre Sprache anpassen. Bitte weniger Distinktionstalk einer sich als Avantgarde verstehenden akademisierten Mittelmaßpolitiker, die an ihren interdisziplinären Lehrstühlen für Soziologie oder Politikwissenschaft verlernt hat, was Politik wirklich zu sein hat: Politik ist nicht für sich selbst da. Politik ist für die Menschen da.
Die SPD muss wieder „Partei der Jugendbewegung“ werden. Das war sie einmal, aber momentan kommt sie nicht mit. Es geht darum, die jungen Menschen in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft zu erreichen, und die Werte der SPD wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in eine zeitgenössische Sprache zu übersetzen, die von ihnen auch verstanden wird. Weil diese Werte eben insbesondere für junge Menschen in ihrer Lebenssituation sehr wichtig sind. Sie haben dazu viele Fragen, aber die SPD gibt ihnen keine Antworten, keine Identifikation und keine Zukunftsvision. Ich denke vor allem an das Thema Generationengerechtigkeit. Aber z.B. auch an ökonomische Freiheit (mach das, was du tun möchtest, und wenn es ist, dass du ein KI- oder Fintech-Unternehmen gründen möchtest). Und beim Thema Solidarität eine Klammer zu finden, die eine attraktive Antwort auf die zunehmende Individualisierung von und Entfremdung innerhalb der Gesellschaft ist. Genau das ist gerade für junge Menschen interessant.
Key take away: Die SPD muss überlegen, wie sie eine zeitgemäße und integrierende Antwort auf die Gerechtigkeitsfrage gibt. Die obigen vier Punkte könnten dafür einen Ausgangspunkt bilden. Auf dem Parteitag wurde diese Auseinandersetzung meiner Ansicht nach verfehlt. Schade. Aber nach dem Parteitag ist vor dem Grundsatzprogrammprozess. Es ist der Partei nur zu wünschen, dass sie wieder herausfindet, wer sie eigentlich ist.