Wer in diesen Wochen politische Debatten verfolgt, dem drängt sich ein Begriff auf, der wie ein letzter Anker klingt: die „demokratische Mitte“. Auch bei einer Lesung von Robin Alexander zu seinem neuen Buch Letzte Chance wurde sie beschworen: jene politische Zone der Vernunft, des Ausgleichs, der Regierungsfähigkeit. Doch Alexander sprach dort einen wunden Punkt aus: Die „Parteien der Mitte“ schwächen sich gegenseitig – in einem Wettbewerb, bei dem keiner gewinnt, aber viele verlieren.
Ich halte den Begriff der „Mitte“ für schwierig. Er suggeriert, dass es ein stabiles homogenes Zentrum gebe, das durch die Abgrenzung zu den politischen Rändern und deren Wählern definiert sei. Doch wer diese Menschen als Problemzone stigmatisiert, blendet aus, dass dort reale Sorgen existieren. Nicht nur Protest, sondern Lebensrealität. Wer diese Menschen ignoriert, verliert sie. Nicht, weil die AfD überzeugender wäre, sondern weil viele das Gefühl haben, dass niemand anderes mehr zuhört.
Hinzu kommt: Die Alternativlosigkeit von Koalitionen nimmt spürbar zu. Ob im Bund, wo ohne die SPD nichts geht, oder in Thüringen, wo man sich sogar des BSW bedienen musste, um handlungsfähig zu bleiben. Diese politischen Zwangslagen lähmen den Diskurs und erwecken den Eindruck, es gäbe keine echten Wahloptionen mehr. Eine ernsthafte Alternative wäre die mutige Rückkehr zur parlamentarischen Debatte in Form einer Minderheitsregierung. Ich vertrete diese Idee seit Langem, nicht aus taktischen Gründen, sondern aus Überzeugung. Denn wer, wenn nicht die Union, könnte als letzte verbliebene Volkspartei mit der nötigen Gravitas und Autorität in der Lage sein, Mehrheiten im Parlament zu organisieren? Der reflexhafte Einwand, damit würde man der AfD zu viel Macht geben, überzeugt nicht. Wer das politisch Richtige vorschlägt – etwa bei der Migrationspolitik vor der Bundestagswahl – kann selbstbewusst auftreten. Entscheidend ist: Nicht die Union muss sich entschuldigen, wenn sie das Richtige zur Abstimmung stellt, sondern SPD, Grüne und FDP müssen nachher den Wählern erklären, warum sie die Zustimmung verweigert haben. Am Ende landeten die Inhalte schließlich auch im Koalitionsvertrag mit den Sozialdemokraten.
Das eigentliche Problem liegt tiefer: Die Parteien der Mitte wirken nicht mehr in die Breite der Gesellschaft hinein. Sie kreisen um sich selbst. Aus Angst vor Populismusvorwürfen oder der „Nazi-Keule“ ziehen sie sich in die politisch-mediale Komfortzone zurück und debattieren dort mit sich selbst: in Talkshows, Leitartikeln und Hauptstadtpanels. Neue Wählerschichten werden kaum erreicht, stattdessen verschiebt man die bestehenden Lager untereinander. Dabei liegt der eigentliche Aderlass außerhalb dieser Kreise: zu den politischen Rändern, oder direkt in die Enthaltung. Wer verloren gegangene Wähler zurückgewinnen will – von links und von rechts – muss raus aus der Blase. Dorthin, wo es unbequem ist. Nach Bautzen, Duisburg-Marxloh oder Gelsenkirchen. Wo die Luft brennt. Wo es laut ist. Wo es gelegentlich auch stinkt. Wer dort den Dialog sucht, muss keine Angst vor Haltungsjournalisten haben, sondern braucht das Selbstbewusstsein, dass ihm niemand die demokratische Verankerung absprechen kann. Gerade die SPD hat heute die besondere Verantwortung, von ganz links bis weit nach rechts zu wirken. Denn genau dort liegen ihre früheren Hochburgen und ihre verlorenen Stimmen.
Ü20 und Ü30 sind nur erste Ziele
Friedrich Merz sagte jüngst, man müsse der SPD helfen, wieder über 20 Prozent zu kommen. Ich stimme zu, allerdings mit einer entscheidenden Bedingung: Die SPD muss diesen Weg auch selbst gehen wollen. Die gerade veröffentliche Kommunikation zur Richterwahl war ein Offenbarungseid. In einer offiziellen Stellungnahme (die inzwischen korrigiert wurde) warf die Parteiführung der Union vor, Desinformation, Hass und Einschüchterung zu befeuern. Das überzeugt niemanden, verärgert aber den Koalitionspartner massiv. Statt sich in einem kulturellen Stellungskrieg mit der Union zu verlieren, müsste sie sich endlich wieder den Kernfragen sozialdemokratischer Politik widmen: konkrete Entlastung für die arbeitende Mitte und glaubwürdige Sicherheitspolitik. Beides ist nicht rechts, es ist überfällig.
Auch ein Erfolg der Union, etwa jenseits der 30-Prozent-Marke, garantiert heute keine stabile Regierung ohne die politischen Ränder. Die Umfragen in Baden-Württemberg zeigen, dass die AfD längst nicht mehr nur im Osten zweistellig ist. Ihr Erfolg ist Ausdruck der politischen Leerstelle, nicht ihrer inhaltlichen Stärke.
Demokratie braucht Streit, aber nicht jenen Schützengrabenkrieg, bei dem jede Partei nur auf die nächste Attacke wartet. Gerade im digitalen Raum zeigt sich die Schlagseite der politischen Debatte. Während sich die AfD dem öffentlichen Diskurs entzieht, liefern sich Grüne, SPD und Teile der Medien fast stündlich symbolische Kämpfe mit der Union. Der Streit muss aber lebendig, offen und auch konfrontativ mit den politischen Rändern geführt werden. Nicht durch Ignorieren, sondern durch klare, substanzielle Auseinandersetzung. Man fragt sich, wann zuletzt ein Unionspolitiker in einer Talkshow mit einem AfD-Vertreter debattierte, als der größten Oppositionspartei im Bundestag.
Auch die Union ist selbst schuld an der aktuellen Situation. Da wäre etwa der bisher unerklärliche Kuhhandel Mütterrente gegen Stromsteuer, welcher nachhaltigen Schaden hinterlassen hat. Aber auch der innerparteiliche Kleinkrieg gegen Friedrich Merz ist nicht überstanden, der sich kürzlich in der Debatte um die Wirtschaftsministerin Reiche entlud. Dabei kennt kaum jemand den Kritiker, für eine breite mediale Begleitung hat es dennoch gereicht. Der politische Gegner dankt es.
Es braucht Antworten aus Selbstreflexion
Ein Landtagsabgeordneter aus Sachsen schrieb mir heute früh: „Baha, ich habe keine Lust mehr.“ Und ich kann ihn verstehen. Die Zeiten sind herausfordernd. Der Einfluss medialer Dynamiken auf die Tagespolitik ist massiv. Der ständige Konflikt mit Koalitionspartnern oder Parteifreunden zermürbt. Doch die Antwort kann nicht Resignation sein. Sie liegt im politischen Selbstbewusstsein: Prinzipien vertreten. Für Ideen werben. Kritik aushalten. Und sich nicht dem Reflex unterwerfen, jedem medialen Impuls nachzugeben. Vor allem aber: Es braucht wieder Mut zur Breite und zur ehrlichen Auseinandersetzung mit jenen, die sich abgewendet haben.
Ich persönlich wäre bereit, meinen digitalen Streit mit den anderen Parteien der Mitte einzustellen und sie sogar zu unterstützen. Nicht kritiklos, aber konstruktiv. Die Frage ist: Sind SPD und Grüne es auch?
Sind sie bereit, ihre reflexhaften Angriffe auf die Union zu beenden? In dem Wissen, dass sie davon über Jahre nicht profitiert haben? In dem Wissen, dass zentrale politische Entscheidungen gegen den Zeitgeist, gegen den Bürgerwillen und gegen die eigenen Wahlergebnisse getroffen wurden?
Wer sich dauerhaft nur über einen Gegner und Abgrenzung definiert, verliert irgendwann das eigene Profil, und mit ihm das Vertrauen derjenigen, die Orientierung suchen.