Deutschland diskutiert gerade über Legenden. Die vom ausgebremsten Kanzler. Die von einer schwarz-blauen Koalition. Doch eine Legende hält sich hartnäckig und sie lähmt jene Partei, die einmal den Anspruch hatte, das Land zu führen: die Legende von der „Abstimmung mit der AfD“, mit der sich die Union angeblich beschädigt habe.
Diese Erzählung lautet: Die Union habe vor der Bundestagswahl 2025 einen migrationspolitischen Antrag eingebracht, der mit Stimmen der AfD angenommen worden sei, und dadurch Wählerstimmen verloren. Sie habe damit die Brandmauer eingerissen und eine Normalisierung der AfD bewirkt, die bis heute nachwirke. Diese Geschichte wird oft erzählt, aber sie ist in dieser Form nie passiert. Es gab weder eine Zusammenarbeit, noch einen belegbaren Einbruch in den Umfragen. Die Legende ist kein Analyse-, sondern ein politisches Disziplinierungsinstrument, geschaffen von der politischen Linken, leider übernommen von Teilen der Union.
Am Anfang stand der Vorwurf, die Union plane eine Koalition mit der AfD. Selbsternannte Rechtsextremismus-Experten wetteten sogar öffentlich darauf, dass man Schwarz-blau noch im Jahr 2024 sehen werde. Diese Erzählung war nicht überzeugend, denn nirgends wurden Koalitionen geschmiedet. Dennoch hatte sie mediale Wirkung und produzierte regelmäßig Brandmauer-Texte von gelangweilten Journalisten, die irgendwo im Land einen CDU-Kommunalpolitiker fanden, der ein Bier mit den Rechtspopulisten trank. Dass manche der Kommunalpolitiker von der SPD oder den Grünen waren, störte dabei nur bedingt.
Also wurde die Erzählung angepasst: Fortan reichte jede Abstimmung, bei der die AfD einem Antrag der Union zustimmte, um von Zusammenarbeit zu sprechen. Nicht abgestimmtes Handeln, nicht ein politischer Kompromiss – allein die zufällige oder billigend in kauf genommene Schnittmenge des Stimmverhaltens genügte, um den Verdacht der Kooperation zu konstruieren. Der Vorwurf ging soweit, dass schon der politische Versuch, AfD-Wähler zurückzugewinnen als Öffnung nach rechts geframt wurde. Wie schon in der Vergangenheit zieht die SPD hier rhetorisch nach, nachdem sie das Framing ausreichend medienwirksam gegen die Union eingesetzt hat. Das ist der eigentliche Zweck der Legende: Sie soll die Union in eine Position zwingen, in der sie um die politische Mitte nicht mehr kämpfen darf, weil sie ständig mit der moralischen Keule bedroht wird.
Was aber geschah tatsächlich? Wo nahm die Legende ihren Anfang? Am 29. Januar 2025 brachte die Union einen Entschließungsantrag ein, der die Regierung aufforderte, die Migration zu begrenzen und Abschiebungen zu erleichtern, ausgelöst durch zwei schreckliche Gewalttaten, die das Land erschütterten. Der Antrag war rechtlich unverbindlich. Er wurde angenommen mit Stimmen der Union, Teilen der FDP und der AfD. Ein Gesetzesentwurf der Union wurde zwei Tage später abgelehnt. Das Theater war groß. Die Demokratie zerstört. Das Höllentor geöffnet. Heute steht der maßgebliche Inhalt des Gesetzesentwurfs im Koalitionsvertrag. Unterzeichnet von Sozialdemokraten. Bei aller Kritik am Prozess: Es gab keine politische Gestaltung „mit der AfD“, sondern ein Signal an die damalige Bundesregierung. Eine Handlungsaufforderung gestützt auf das Bekenntnis von SPD-Ministerpräsidenten. Die AfD hat sich an dieses Signal angehängt, um es für sich zu instrumentalisieren, genau wie sie es bei jeder Gelegenheit tut. Ohne Sensationsgeilheit von Rot-Grün und die Rückgradlosigkeit der FDP wäre dieser Vorgang nie hochgekocht und am Ende ein Signal der Geschlossenheit an die Bevölkerung gewesen: Wir haben verstanden.
Der zweite Teil der Legende ist der angebliche Wählereinbruch. Doch die Daten sprechen eine andere Sprache. Die Institute, die bei der Wahl 2025 am genauesten lagen (YouGov und die Forschungsgruppe Wahlen), zeigen durchgehend ein anderes Bild: Der Aufschwung der Union begann im Herbst 2023 und führte sie stabil über 30 Prozent. Dieser Aufschwung hielt bis weit in das Jahr 2024 an, getragen von einer klaren migrationspolitischen Positionierung, die erstmals seit Jahren wieder Vertrauen herstellte. Der leichte Rückgang in den Wochen vor der Wahl fiel zeitlich zusammen mit dem Ende der Ampel, dem Eintritt in den Wahlkampfmodus und einer massiven Gegenmobilisierung der Linken, nicht mit einer angeblichen Kooperation mit der AfD. Die Bewegungen lagen im Bereich normaler Kampagnenfluktuationen. Es gibt keinen empirischen Beleg für einen Absturz. Die Behauptung, die Union habe durch die Januar-Abstimmungen Stimmen verloren, wird durch keine belastbare Quelle gestützt.
Auch die AfD profitierte nicht. Ihr Zuwachs war bereits vor den Abstimmungen eingetreten, getragen von enttäuschten SPD- und FDP-Wählern. Ihr Ergebnis von 20,8 Prozent war Ausdruck des Vertrauensverlusts gegenüber der Regierung, nicht Folge eines Manövers der Opposition.
Warum lebt diese Legende weiter? Weil sie ein Machtinstrument ist. Die Brandmauer ersetzt die politische Auseinandersetzung. Sie dient nicht dazu, die AfD zu stoppen, sondern die Union zu blockieren. Wer sich ständig rechtfertigen muss, kann nicht führen. Wer sich entschuldigt, bevor er spricht, hat bereits verloren.
Diese politische Schablone ist nicht nur analytisch falsch, sie ist strategisch gefährlich. Eine Volkspartei, die sich in moralische Sonderzonen zurückzieht, überlässt das politische Feld den Rändern. Eine Partei, die Mehrheiten gewinnen will, darf nicht zulassen, dass legitime Anliegen – Migration, Sicherheit, wirtschaftliche Ordnung – durch semantische Fallen blockiert werden. Die politische Linke lebt politisch längst nicht mehr von Lösungen, sondern vom Alarm und dem Schüren von Angst. Wer das politische Geschäft nur noch als moralische Grenzverwaltung betreibt, verliert Wähler.
Die Legende von der Abstimmung erklärt weder die Entwicklung der Union noch die Stärke der AfD. Sie erklärt nur die Schwäche einer politischen Kultur, die Konflikten ausweicht und dafür moralische Ersatzhandlungen erfindet. Die Union wird nicht dadurch stark, dass sie sich selbst fesselt. Sie wird stark, wenn sie politisch handelt, ihre Themen setzt und ihre Sprache verteidigt.
Unsere Demokratie lebt nicht von Brandmauern, sondern von politischer Souveränität. Menschen, die man über Brandmauern wirft, holt man nur schwer zurück.